„Staatsbürgerschaft ist das Recht, Rechte zu haben“ – Hannah Arendt
Versuch einer Definition
Das Konzept der Staatsbürgerschaft ist vielschichtig, es enthält sowohl politische als auch soziale und rechtliche Aspekte. Der Begriff der Staatsangehörigkeit verweist bereits auf einen Teilbereich von Citizenship: die formale Zugehörigkeit eines Menschen zu (und damit auch Identifikation mit) einem Staatsgebilde (vgl. Thürer 2000: 178). Staatsbürger*innen sind ein konstituierendes Element eines Nationalstaates: Ein Staat braucht eine Bevölkerung, um als solcher überhaupt existieren zu können (vgl. Bauböck/Vink 2013: 622). Staatsbürgerschaft bedeutet darüber hinaus die Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft. Durch diese Mitgliedschaft wird rechtliche Gleichheit aller Mitglieder, also aller Bürger*innen hergestellt. Alle Mitglieder dieser politischen Gemeinschaft haben die gleichen Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat und gegenüber den anderen Gemeinschaftsmitgliedern. Bürgerschaft ist also einerseits ein rechtlicher Status (Verhältnis zwischen Individuum und Staat), andererseits auch ein soziales Verhältnis zwischen den Bürger*innen (vgl. Gosewinkel 2008: 31). Die Verleihung der Staatsbürgerschaft an die Bewohner*innen eines Staates schafft eine politische und symbolische Gemeinschaft aller Menschen, die in einem Staat leben; es wird ein großes abstraktes wir geschaffen. Dadurch entsteht im Umkehrschluss ein ihr, eine Gruppe von Menschen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehört und daher nicht die gleichen Rechte und Pflichten besitzt. Die Unterscheidung von Staatsbürger*innen und Nichtstaatsbürger*innen dient unter anderem der Ausgrenzung gewisser Bevölkerungsgruppen (vgl. Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2008: 155; Osler/Starkey 2005: 11; Thürer 2000: 179).
Vier Aspekte von Staatsbürgerschaft
Das historisch gewachsene Konzept der Staatsbürgerschaft umfasst vier wichtige Aspekte (vgl. Stack 2012: 873-875):
a) Recht auf politische Teilhabe: Der rechtliche Status der Staatsangehörigkeit ist stark mit dem Recht zur politischen Partizipation verknüpft (vgl. Benhabib 2007: 167). Staatsbürger*innen besitzen ab einem bestimmten Alter das aktive und passive Wahlrecht, können an direktdemokratischen Mechanismen teilnehmen (z.B. Volksbegehren, Volksabstimmungen) und haben verschiedene weitere Möglichkeiten, ihre politischen Partizipationsrechte wahrzunehmen (bspw. Unterschriftenaktionen, Petitionen, Bürgerinitiativen, etc.).
b) Gewährung von sozialen Rechten: In demokratischen Staaten gibt es auch soziale Rechte, beispielsweise den Anspruch auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen, Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen, etc. Bestimmte Leistungen können Bürger*innen eines Staates vorbehalten sein. Beispielsweise wurde in Österreich der Zugang zu geförderten Gemeindebauten in Wien für Nicht-EU-Bürger*innen erst 2006 rechtlich ermöglicht (vgl. Wien Konkret 2013). Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden viele soziale Rechte auf alle Menschen, die in Österreich leben, ausgedehnt. So ist beispielsweise das Recht auf Arbeitslosenunterstützung von der vorherigen Arbeitsleistung in Österreich abhängig, nicht allein von der Staatsbürgerschaft. Auch das Bildungssystem ist für Nicht-Staatsbürger*innen ebenso weitgehend kostenfrei zugänglich, wie für Staatsbürger*innen.
c) Bürgerliche Rechte: Im Laufe der Demokratisierung der europäischen Nationalstaaten wurden auch verschiedene bürgerliche Rechte und Freiheiten erkämpft, wie etwa persönliche Freiheit und Unversehrtheit, Versammlungsfreiheit, Meinungs- und Religionsfreiheit, Recht auf freie Information und Medien, etc. Ursprünglich galten diese Rechte für Staatsbürger*innen, für Nicht-Staatsbürger*innen war der Schutz dieser bürgerlichen Rechte und Freiheiten jedoch nur eingeschränkt vorgesehen. Heute sind diese Rechte und Freiheiten durch den allgemeinen Menschenrechtsschutz von der Staatsbürgerschaft weitgehend losgelöst.
d) Gefühl der Zugehörigkeit und nationaler Identität: Die Menschen leben miteinander in einer Gesellschaft, woraus gewisse Pflichten, Aufgaben und Anrechte erwachsen. Durch dieses tägliche aktive Miteinander und die geteilten Realitäten, Werte und Institutionen entsteht Identität; die Menschen identifizieren sich mit „ihrem“ Staat und fühlen sich „ihrer“ nationalen Gemeinschaft zugehörig (vgl. Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2008: 154). Staatsbürgerschaft ist damit auch ein relationales Konzept, welches das Individuum im Verhältnis zu anderen Individuen und zum Staat definiert.
Zwei der hier angesprochenen Aspekte, nämlich die Gewährung von sozialen und bürgerlichen Rechten wurde in den letzten Jahren Großteils auch auf Nicht-Staatsbürger*innen ausgedehnt, die in europäischen demokratischen Staaten wohnen. Als wichtigste formale Unterscheidung zwischen Staatsbürger*in und Nichtstaatsbürger*in bleibt daher der Aspekt der politischen Mitbestimmung.
Bürgerlicher Nationalismus und Ethnischer Nationalismus
In der politikwissenschaftlichen Literatur werden zwei Modelle von nationalen Gemeinschaften unterschieden: ethnische und zivile. Diese gelten als so genannte Idealtypen (theoretische Modelle) und unterscheiden sich darin, wodurch sie sich hauptsächlich als Gemeinschaft definieren. Der Gegenstand ihrer Eigendefinition wiederum hat starken Einfluss darauf, wie jemand Mitglied dieser Gemeinschaft werden kann: Welche Kriterien muss ein Mensch erfüllen, um in eine nationale politische Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied aufgenommen zu werden?
Der ethnische Nationalismus (ethnic nationalism) ist auch als Kulturnation bekannt (vgl. Reeskens/Hooghe 2010: 579-581). Diese Form des Nationalismus definiert sich vorwiegend über Abstammung, gemeinsame Kultur, Sprache, Tradition und Religion und geht stark mit einem darauf basierenden, angenommenen Gefühl der Loyalität einher (vgl. Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2008: 158). Diese Form der Gemeinschaftsbildung ist auch unter dem Begriff ius sanguinis (lateinisch für „Recht des Blutes“ oder Abstammungsprinzip) bekannt: Es kommt auf die Abstammung eines Menschen und die Nationalität der Eltern an, zu welcher nationalen Gemeinschaft er oder sie gehört. Typische Beispiele für Staaten mit einem ethnischen Nationsverständnis sind Österreich und Deutschland sowie die Schweiz. Da die Abstammung eines Menschen unveränderbar ist, ist es in der Vorstellung des ethnischen Nationalismus auch schwierig, seine nationale Zugehörigkeit zu verändern oder zu wechseln. Die Verleihung einer Staatsbürgerschaft an „neue“ Staatsbürger*innen ist normalerweise an lange Fristen und andere Bedingungen wie Einbürgerungstests oder Nachweis von Sprachkenntnissen gebunden. Dies wird in der wissenschaftlichen Literatur auch als ein ethnos Ansatz von Gemeinschaftsbildung bezeichnet: Der Volksbegriff wird ethnisch definiert (vgl. Brochmann/Seland 2010: 435).
Das staatsbürgerschaftliche Nationsverständnis (civic nationalism) hingegen definiert sich eher über ein gemeinsames Verständnis von Werten und Rechten, über aktive politische und gesellschaftliche Beteiligung, über die Loyalität gegenüber den verfassungsmäßigen Grundlagen der demokratischen politischen Gemeinschaft sowie über einen „Gesellschaftsvertrag“, der als Grundlage über die Verständigung von gesellschaftlichen Werten und Normen gilt. In dieser Konzeption ist die Befolgung von Regeln und Gesetzen sowie die aktive politische Mitbestimmung ein zentrales konstitutives Element einer Gemeinschaft. Dies wird auch als demos Ansatz bezeichnet: Der Volksbegriff definiert sich über die politische Mitbestimmung (vgl. Brochmann/Seland 2010: 435). Prinzipiell ist eine derart begründete politische Gemeinschaft offener und zugänglicher für neue Mitglieder. Ein typisches Beispiel für diese Form des Staatsbürgerschaftsverständnisses ist Frankreich (vgl. Reeskens/Hooghe 2010: 580f).
Ähnlich des civic nationalism gilt auch das Territorialprinzip als leichter zugänglich für neue Mitglieder: Im Gegensatz zum Abstammungsprinzip geht es hier nicht um die Nationalität der Eltern, sondern um den Geburtsort des betreffenden Menschen. Klassische Einwanderungsländer wie die USA vergeben ihre Staatsbürgerschaft hauptsächlich nach diesem Prinzip (ius soli). Es richtet sich also stärker danach, wo jemand geboren ist und seinen Lebensmittelpunkt hat – und somit auch danach, wo jemand politisch sozialisiert wird. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts und verstärkt im 21. Jahrhundert ist eine schrittweise Reformierung der verschiedenen nationalen Staatsbürgerschaftsregime zu beobachten. Heute besteht in den meisten Staaten eine Mischform aus ius soli und ius sanguinis bzw. aus civic und ethnic nationalism, wobei je ein Aspekt dominant bleibt, der mit Elementen des jeweils anderen Prinzips angereichert wird. In Europa ist vor allem aufgrund der fortschreitenden politischen Integration im Rahmen der EU und der steigenden physischen Mobilität der europäischen Bürger*innen eine langsame Angleichung der nationalen Citizenship-Regelungen zu beobachten (vgl. Reeskens/ Hooghe 2010: 580).
Das jeweilige Verständnis von Nation und Zugehörigkeit ist in jedem Staat historisch gewachsen. Die rechtliche und institutionelle Gestaltung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft spiegelt diese historischen Strukturen stark wider (vgl. Brochmann/Seland 2010: 430). Es ist daher normalerweise ein langwieriger Reformprozess, begleitet von vielen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Debatten, wenn Staaten diese Praxis verändern möchten. Historisch bedingte Strukturen und Ansichten sind schwieriger zu verändern, als jüngere oder rein „rational begründete“ Regelungen. Dennoch entwickelte sich in den letzten Jahren ein verstärkter Diskurs über die Themen Staatsbürgerschaft, Citizenship, politische Mitbestimmung und Zugehörigkeit in vielen demokratischen Staaten der Welt. Diese Debatten und neue Ansätze von Citizenship sollen in diesem Text nachgezeichnet werden.
Bedeutung der Staatsbürgerschaft für die Demokratie
Demokratie beruht auf der Idee, dass eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern sich selbst regiert. Das bedeutet, dass theoretisch die Gruppe der Regierenden und der Regierten die gleiche ist. Alle Menschen, die von den Gesetzen einer Gruppe regiert werden und ihnen unterworfen sind, haben auch das Recht, Teil der Regierung zu sein bzw. diese auszuwählen (vgl. Beckman 2013: 49; Näsström 2011: 124). Dies ist die Grundidee des demokratischen Prinzips, deren direkte Umsetzung die direkte Demokratie wäre. Dadurch kommt der Frage, wer Teil der Bürgerschaft ist, in einer Demokratie zentrale Bedeutung zu (vgl. Näsström 2011: 116). Der Politikwissenschafter Robert Dahl bezeichnete dies als das Problem der Inklusion (vgl. Dahl 2006; 2000; 1989; 1971): Wer ist Teil des Demos in einer Demokratie? Wer entscheidet darüber und mit welcher Begründung? Nachdem im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts das Wahlrecht auf immer größere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt wurde, wurde in den letzten Jahrzehnten die Frage nach der Zugehörigkeit zu politischen Gemeinschaften erneut aufgeworfen und es sind Diskussionsprozesse darüber in Gang gekommen, nach welchen Kriterien politische Partizipation bzw. rechtliche Zugehörigkeit zu Nationalstaaten definiert werden sollten.
Übertragen auf heutige Nationalstaaten bedeutet das demokratische Prinzip, dass die Regierten das souveräne Volk sind, welche das aktive und passive Wahlrecht besitzen und somit im demokratischen politischen System ihre Regierung selbst wählen und auch wieder abwählen können. Volkssouveränität bezeichnet die Idee, dass „das Volk“ (also die Gesamtheit der Staatsbürger*innen) Subjekt und Objekt der Rechtssetzung sind (vgl. Benhabib 2007: 171). Bürger*innen bestimmen über die Ausgestaltung der Gesetze, denen sie später unterworfen sind. In heutigen Nationalstaaten bedeutet dies, dass mit bestimmten Einschränkungen alle Staatsbürger*innen, die ein bestimmtes Alter erreicht haben (in Österreich 16 Jahre, in den meisten anderen Staaten 18 Jahre), das aktive und passive (auch in Österreich 18 Jahre) Wahlrecht besitzen und somit vollwertige Mitglieder der nationalen politischen Gemeinschaft sind (vgl. Näsström 2011: 118). Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts gibt es bezüglich Menschen, die aufgrund schwerer Delikte lange Haftstrafen verbüßen, besachwaltete Personen und ähnliches.
Durch das allgemeine Wahlrecht sind auch im repräsentativen demokratischen System alle Staatsbürger*innen und deren Interessen angemessen vertreten, weil jede und jeder bei den Wahlen seine oder ihre „Interessensvertreter*innen“ auswählen kann (vgl. Urbinati/Warren 2008: 388). Politische Repräsentation als grundlegendes Prinzip der modernen nationalstaatlich organisierten Demokratie ist daher eng verknüpft mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft.
Das Problem der Inklusion und das all subjected principle
Historisch betrachtet haben sich die Konzepte des Nationalstaats und der umfassenden Demokratisierung des Staates in Europa gemeinsam entwickelt. Dadurch sind heutige moderne Demokratien stark nationalstaatlich institutionalisiert. Im Prozess der Demokratisierung im 19. und 20. Jahrhundert hat sich das grundlegende Verständnis vom Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat stark verändert: Die Menschen sind nicht mehr Untertanen eines Herrschers, sondern Bürger*innen mit Rechten und Pflichten, welche durch ihre aktive Partizipation an der Demokratie diese erst ermöglichen und gestalten (vgl. Blatter 2011: 770) – sie sind zu stakeholdern ihres Gemeinwesens geworden. Alle Menschen, die an staatliche Gesetze gebunden sind, haben auch das Recht, an deren Ausformulierung (zumindest indirekt) mitzuwirken (=all subjected principle). Im Prozess der Demokratisierung wurde daher ein stetiger Diskussionsprozess darüber geführt, welche Bevölkerungsgruppen an der demokratischen „Selbstregierung“ beteiligt sein sollten; also darüber, welche Bevölkerungsgruppen das aktive und passive Wahlrecht erhalten sollen (vgl. Blatter 2011: 774). Seit der „Erfindung“ der Demokratie im antiken Griechenland haben sich die Vorstellungen davon, wer zum „Volk“ bzw. zur Bürgerschaft gehört, stark verändert. Damals waren nur volljährige wohlhabende männliche Bürger vollwertiger Teil der politischen Gemeinschaft (vgl. Näsström 2011: 118). Mit dem Beginn der Demokratisierung europäischer Staaten im 19. Jahrhundert wurde schrittweise eine größere Inklusion der demokratischen Systeme erkämpft und die (theoretische) Übereinstimmung der Gruppe der Regierten mit der Gruppe der Regierenden konnte weitgehend realisiert werden. Schritt für Schritt wurde somit der Kreis der „Mitglieder“ von demokratischen Systemen ausgedehnt (vgl. Gosewinkel 2008: 34): Gehörten zu Beginn der Demokratisierung in Europa im 19. Jahrhundert hauptsächlich Männer ab einem gewissen Einkommen und gesellschaftlichen Status zu den (Staats-)Bürgern, so wurden die Zugangshürden zum Wahlrecht schrittweise gelockert, die ökonomischen Voraussetzungen gedrosselt, Ungerechtigkeiten aufgrund von Geschlecht, gesellschaftlicher Stellung oder Hautfarbe aufgehoben sowie das Wahlalter gesenkt. Diese Errungenschaften, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, waren jeweils das Ergebnis von gesellschaftlichen Debatten und Protestbewegungen, die Ausweitung von rechtlicher Gleichstellung und politischer Teilhabe musste erkämpft werden (vgl. Simon 2013: 508). Besonders die Durchsetzung des allgemeinen Frauenwahlrechts war ein langwieriger Prozess, der einen sehr wichtigen Schritt auf dem Weg zur politischen Inklusion der europäischen Gesellschaften darstellte.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts umfasste dann die wahlberechtigte Bürgerschaft tatsächlich den größten Teil der Bevölkerung der Nationalstaaten. Trotz dieser historischen Errungenschaften gibt es Diskussionen um eine weitere Ausdehnung der politischen Partizipationsrechte auf weitere Bevölkerungsgruppen, wie etwa Jugendliche, Kinder oder Nicht-Staatsbürger*innen (Migrant*innen) (siehe beispielsweise Abendschön/Van Deth/Vollmar 2011: 147; Näsström 2011: 119; Blatter 2011: 771).
Historische Entwicklung des Konzepts „Staatsbürgerschaft“
Die Ideen Nationalstaat und Staatsbürgerschaft sind ebenso wie moderne repräsentative Demokratien im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts entstanden. Das Verhältnis zwischen dem Monarchen als Herrscher und dem Volk als Beherrschten verwandelte sich langsam, beeinflusst von den Errungenschaften der Französischen Revolution und der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte (vgl. Blatter 2011: 770). Die europäischen Monarchien waren Vielvölkerstaaten, lose Zusammenschlüsse von Fürstentümern und Königreichen. Die Ausbildung moderner westlicher Staaten ging mit deren „Territorialisierung“ einher: „Die Einschließung eines bestimmten Gebiets, seine Abtrennung von anderen durch die Errichtung bewachter Grenzen und die Behauptung, dass alles Beseelte und Unbeseelte innerhalb dieser Grenzen unter der Herrschaft des Souveräns falle ist ein zentrales Merkmal moderner Staaten westlicher Prägung“ (Benhabib 2007: 172f). Es entwickelten sich wohlhabende, städtische Zentren mit einer wohlhabenden und selbstbewussten Bürgerschaft (vgl. Gosewinkel 2008: 32). Diese Bürgerschaft versuchte zunehmend, die (absolutistische) Monarchie und die Herrschaft des Adels einzuschränken und politische und rechtliche Garantien für sich selbst zu erkämpfen. Dabei ging es nicht vorrangig um die Schaffung einer egalitären, inklusiven Gesellschaft oder einer repräsentativen Demokratie, sondern um die Sicherstellung bestimmter Privilegien für diese kleine und vorwiegend männliche Schicht von wohlhabenden Bürgern. So wurden beispielsweise in Großbritannien schrittweise grundlegende Bürgerrechte und parlamentarische Vertretung erkämpft (1689 Bill of Rights). Erstmals wurden allgemeine Menschenrechte in den USA (1776) und Frankreich (1789) verkündet. Immer breitere Schichten der städtischen Bürgerschaft wollten ihre Interessen politisch vertreten (lassen). Der Leitspruch der Bürger*innen aus den damaligen britischen Kolonien in Nordamerika „No taxation without representation“ („Keine Besteuerung ohne politische Vertretung/Mitsprache“; etwa 1764) brachte sehr deutlich die gewandelte Wahrnehmung der Bürger*innen auf sich selbst und ihr Verhältnis zur Regierung zum Ausdruck.
So entwickelten sich Stück für Stück über mehrere Jahrzehnte die oben angesprochenen Aspekte der Staatsbürgerschaft: Zuerst der rechtliche Status als Bürger*in, der bereits im Mittelalter bekannt war. Hier bestand die wichtige Entwicklung für die Demokratie in der schrittweisen Erweiterung derjenigen Gesellschaftsgruppen, die als Bürger (und später Bürgerinnen) galten. Bürgerliche Rechte (vor allem Garantien der körperlichen Unversehrtheit und Begrenzung der staatlichen Willkür) wurden seit dem Spätmittelalter schrittweise gewährt, wobei anfangs der Kreis derjenigen, die diese Rechte genossen, auf eine kleine Schicht aus Adel und gehobenem Bürgertum begrenzt war. Soziale Rechte (Ausbau von Bildungswesen, wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen) konnten im Zuge der Industrialisierung und dem Erstarken der Arbeiterbewegung im Laufe des 19. Jahrhunderts erkämpft werden. Letztlich entstand aufgrund dieser gemeinsam erkämpften und genossenen Rechte und Pflichten, historischen Errungenschaften und gemeinsamen Kultur auch ein nationales Narrativ und Zugehörigkeitsgefühl (vgl. Blatter 2011: 770f; Tambini 2001: 196).
Aus den bisherigen (absolutistisch regierten) losen Vielvölkerstaaten wurden langsam stärker strukturierte und klarer begrenzte Nationalstaaten. Bestehende soziale, kulturelle, sprachliche oder religiöse Unterschiede wurden zur deutlichen Abgrenzung der „nationalen Gemeinschaften“ voneinander verwendet (vgl. Tambini 2001: 198).
Dieser kurze historische Abriss zeigt, dass die Zugehörigkeit zur nationalen politischen Gemeinschaft und politische Mitbestimmungsrechte zu einem großen Teil das Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist: Staatsbürgerschaft bedeutete vor 100 Jahren etwas anderes als heute und in weiteren 100 Jahren wird es vermutlich wiederum etwas anderes bedeuten. Die Möglichkeiten, die Staatsbürgerschaft zu erlangen, haben sich seither ebenso grundlegend verändert wie die damit verbundenen Rechte und Pflichten. Die Bedeutung von Staatsbürgerschaft in einer Gesellschaft und der Zugang zu ihr sind grundsätzlich veränderbar und unterliegen einem ständigen Diskussionsprozess.