Über 60 Jahre sind seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vergangen. Das vereinte Europa hat sich seitdem sehr verändert. Aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist die Europäische Union, die wirtschaftliche Vereinigung auch zu einer politischen geworden. Neue Mitgliedsstaaten sind hinzugekommen, die Europäische Union umfasst mittlerweile 27 Staaten.
Je mehr Länder in den europäischen Integrationsprozess eingebunden wurden und je enger neben der wirtschaftlichen auch die politische Zusammenarbeit geworden ist, umso stärker wurde die Frage diskutiert, was Europa und die Europäische Union an Inhalten und Werten ausmacht. Das Projekt eines gesamteuropäischen Geschichtsbuches zählt ebenso zu den Versuchen, die europäische Identität zu bestimmen, wie die Suche nach Metaphern, die das vereinte Europa beschreiben: Vom „gemeinsamen Haus“ über die „Baustelle Europa“ wird in bildhafter Form versucht, das europäische Projekt zu beschreiben.
Seit den 1970er Jahren ist das Schlagwort von der europäischen Identität, die es zu schaffen und zu stärken gelte, aus den Debatten um Europa nicht mehr wegzudenken. Auf ihrem Gipfel in Kopenhagen 1973 sprachen die Staats- und Regierungschefs erstmals in einem offiziellen EG-Dokument von der europäischen Identität. Infolge der Ereignisse von 1989 und der Erweiterungsrunde von 2004 hat sich die Frage nach der europäischen Identität weiter verstärkt. Besonders was den Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit angeht, entzündeten sich hier geschichtspolitische Debatten. Europaweit lässt sich eine Rückkehr der Geschichte in den öffentlichen Raum feststellen. Zwischen Österreich und Tschechien wurde über den Umgang mit den Beneš-Dekreten verhandelt, zwischen Deutschland und Polen entspann sich eine Debatte über ein Vertriebenenzentrum in Berlin. Unterschiedliche Erinnerungskulturen prallten aufeinander und zeigten die geschichtspolitischen Herausforderungen für eine europäische Identität. Durch diese Debatten entstand – trotz teils kontroverser Überzeugungen und mitunter heftiger Schlagabtausche – eine die EU-Ländergrenzen überschreitende Diskussionskultur und eine neue Form europäischer Öffentlichkeit.
Besonders die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat europaweit die Debatten um die europäische Identität angeheizt. Schon 2002 hatte der Präsident des EU-Konvents, Valerie Giscard D’Estaing, über die Türkei gesagt, sie habe „eine andere Kultur, einen anderen Zugang, eine andere Lebensweise“. Seit den Anschlägen des 11. September 2001 ist zudem die Debatte über Europa und den Islam neu angefacht worden. Im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei wird darüber diskutiert, ob die Europäische Union eine christliche Wertegemeinschaft sei.