Neben den bisher vorgestellten theoretischen Überlegungen zur Erweiterung oder „Überwindung“ von Nationalstaaten und nationalstaatlich strukturierter Bürgerschaft, gibt es auch einige reale Entwicklungen, welche auf veränderte Bedingungen des nationalen Regierens, mobile Bürger*innen mit vielschichten Identitäten und neue Gegebenheiten in Einwanderungsgesellschaften zu reagieren versuchen. Daher geht dieser Abschnitt des Themenmoduls der Frage nach, welche neuen politischen Konzepte bereits erprobt werden.
Unionsbürgerschaft
Aufgrund der verstärkten Zusammenarbeit der europäischen Nationalstaaten im Rahmen der supranationalen EU und der immer stärker wahrgenommenen und beklagten demokratischen Defizite und mangelnden Legitimation der Entscheidungsträger*innen im Rahmen der EU wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 die so genannte Unionsbürgerschaft eingeführt. Diese sieht zusätzlich zur nationalen Staatsbürgerschaft Rechte und Vorteile für Bürger*innen von EU-Staaten vor und soll helfen, eine europäische Gemeinschaft und Identität zu schaffen, welche letztlich auch Voraussetzung für die Schaffung einer europäischen supranationalen Demokratie wäre.
Die Europäische Union wollte auf Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation der supranationalen Organe und auf die festgestellte mangelnde Identität der Bürger*innen mit dem europäischen Projekt reagieren und eine Maßnahme gegen die Wahrnehmung setzen, dass „die EU“ weit weg vom realen Leben der Menschen existiere und keinerlei Bedeutung für ihr Leben habe. Daher verankerte man im Vertrag von Maastricht die so genannte Unionsbürgerschaft (vgl. Jiménez 2010: 31). Artikel 8b (1) dieses Vertrages besagt: „Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedsstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates.“ Dies gilt auch für die Wahlen zum Europäischen Parlament: Ein*e Unionsbürger*in kann im Wohnsitzstaat an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen und die Kandidat*innen des Wohnsitzstaates wählen. Er oder sie kann sich aber auch dafür entscheiden, per Briefwahl an der Europawahl im Heimatstaat teilzunehmen und die dort nominierten Kandidat*innen zu wählen.
Mit der Einführung dieser neuen Form von Ctizenship möchte die EU ein Gefühl der Identität und Zugehörigkeit der europäischen Staatsbürger*innen zur Europäischen Union und auch zu den anderen Mitgliedsstaaten schaffen bzw. stärken. Ebenso wie die europäische Flagge und die europäische Hymne handelt es sich hierbei um ein wichtiges Symbol. Die Menschen sollen sich zunehmend europäisch fühlen, nicht nur als Angehörige eines Nationalstaates. Die (politischen) Grenzen, die zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten abgebaut wurden, sollen auch in den Köpfen der Menschen eingeebnet werden. Erleichtert werden soll dies durch das Ermöglichen der Ausübung von politischen Rechten jenseits der nationalen Staatsbürgerschaft. Die langsame Entwicklung hin zu sowohl-als-auch Identitäten bzw. Mehrfachidentitäten soll gefördert werden. Diese neue Form von Citizenship ist leichter verständlich und fassbar, weil die Nation als Kategorie und Referenzrahmen bestehen bleibt: Nur wer Staatsbürger*in eines Mitgliedsstaates ist, besitzt die Unionsbürgerschaft. Diese ist als Ergänzung und übergeordnete Kategorie zur nationalen Zugehörigkeit gedacht. Zusätzlich zur bestehenden Identität soll ein neuer Rahmen der Identifikation geschaffen werden, der rechtliche Vorteile mit sich bringt (vgl. Jiménez 2010: 36).
Ein spannender Aspekt ist, dass die Unionsbürgerschaft etwas ist, das erst durch die gelebte Praxis der Menschen Bedeutung erlangt: Würde jede*r Unionsbürger*in ohnehin in seinem oder ihrem eigenen Land leben und arbeiten, so hätte das Recht, in einem anderen EU-Staat an Kommunalwahlen teilzunehmen, keinerlei Bedeutung. Erst durch die zunehmende Mobilität der Bürger*innen innerhalb der EU wird dieses Instrument der Unionsbürgerschaft also mit Leben erfüllt und kann eine identitätsstiftende Wirkung entfalten (vgl. Aradau/Huysmans/Squire 2010: 946). Die Unionsbürgerschaft kann als ein Experiment angesehen werden: Ein Versuch, auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Europa zu reagieren und neue Referenzrahmen zu schaffen. Staatsbürgerschaften und nationale Identitäten sind über Jahrzehnte gewachsen. Sie haben gelernt, sich damit zu identifizieren. Die Unionsbürgerschaft wurde erst 1992 eingeführt, sie wird also sicherlich noch Zeit brauchen, um sich in den Köpfen der Menschen durchzusetzen und um mit Inhalt und Bedeutung gefüllt zu werden.
Wohnbürgerschaft und stakeholder citizenship
Wie bereits beschrieben stellt die beinahe weltweite Praxis der Verbindung von Wahlrecht mit Staatsbürgerschaft in Zeiten vermehrter Mobilität eine Herausforderung für die Legitimität demokratischer Staaten mit hohem Anteil an Nichtstaatsbürger*innen in der Bevölkerung dar (vgl. Song 2009: 608). Für die wachsende Anzahl an ausländischen Menschen, die weitgehend gleichberechtigt mit Staatsbürger*innen in einem Land leben, wurden bereits verschiedene Namen entwickelt: Der schwedische Politikwissenschaftler Tomas Hammar entwickelte beispielsweise den Begriff denizenship, der sich aus den beiden englischen Wörtern denizen (Bewohner*innen) und citizenship (Bürgerschaft) zusammensetzt und auf das Konzept hinter diesem Begriff verweist: Ein*e Wohnbürger*in (Vorschlag für die Übersetzung von Rainer Bauböck) ist in wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Hinsicht Staatsbürger*innen weitgehend gleichgestellt, was Zugang zu Bildung, soziale Dienstleistung, Rechtsschutz, etc. betrifft. Dadurch wurde die Abgrenzung zwischen Staatsbürger*innen und Nicht-Staatsbürger*innen unklarer, die Trennlinie verwischt. Dennoch sind die ausländischen Bewohner*innen von der politischen Teilhabe ausgeschlossen, das Wahlrecht ist (in manchen Fällen das einzige) Privileg der Staatsbürger*innen geblieben (vgl. Bauböck 2006: 115).
Eine mögliche und naheliegende Option, um das Legitimationsproblem demokratischer Systeme durch eine wachsende Bevölkerungsgruppe ohne politische Teilhabe zu behandeln, ist eine stärkere Entkoppelung von politischen Teilhaberechten und Staatsbürgerschaft. Es gibt einige Staaten, die Nicht-Staatsbürger*innen Wahlrechte gewähren – manche auf nationaler, manche auf regionaler oder kommunaler Ebene. Das würde bedeuten, dass Menschen, die über mehrere Jahre legal in einem Staat leben, jedoch nicht die betreffende Staatsbürgerschaft besitzen, das Wahlrecht bekommen. Studien aus Großbritannien und Frankreich zeigen, dass sich der Interessensschwerpunkt der Menschen stark in das Aufnahmeland verlagert, wenn es politische Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt (vgl. Bauer 2008: 13). Das wird in manchen Ländern bereits umgesetzt: In Neuseeland dürfen Menschen, die seit mindestens einem Jahr legal dort wohnen, an den nationalen Wahlen teilnehmen. In Chile wird das Wahlrecht nach fünf Jahren erteilt, in Malawi nach sieben und in Uruguay nach 15 Jahren (vgl. Bauböck 2006: 119). Diese Staaten haben das Wahlrecht auf nationaler Ebene (Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen) bereits vom rechtlichen Status der Staatsbürgerschaft entkoppelt. In manchen europäischen Ländern dürfen Migrant*innen zumindest an Kommunal- oder Regionalwahlen teilnehmen: In Schweden beispielsweise besitzen Zuwander*innen, die seit mindestens 3 Jahren legal im Land leben und über 18 Jahre alt sind, das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene (also für Gemeinderät*innen) (vgl. Bauer 2008: 4). Bürger*innen von EU-Mitgliedsstaaten dürfen in allen anderen Mitgliedsstaaten ebenfalls an den kommunalen Wahlen teilnehmen (Unionsbürgerschaft).
Dies kann verschiedene Gründe haben: In Skandinavien und den Niederlanden wurde das kommunale Ausländer*innenwahlrecht (nicht nur für EU-Staatsbürger*innen) eingeführt, um die politische Inklusion der Gemeinschaft zu steigern und die Integration von Migrant*innen zu forcieren. Besonders Menschen, die schon lange in einem Land leben, aber manche Kriterien zur Einbürgerung nicht erfüllen bzw. aus verschiedenen Gründen nicht eingebürgert werden wollen oder können, sollen damit die Möglichkeit erhalten, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen und ihre politischen Repräsentant*innen zu wählen (vgl. Bauböck 2006: 122). Ein weiteres Argument für die Entkoppelung von Staatsbürgerschaft und Wahlrecht ist eine Art Kompensation für Nicht-Staatsbürger*innen: Der Zugang zur Staatsbürgerschaft wird ihnen zwar weiterhin erschwert bzw. ist ihnen unmöglich, aber im Gegenzug dürfen sie auf kommunaler Ebene wählen (vgl. Bauböck 2006: 123). Estland ist ein Beispiel für solch einen „kompensierenden“ Ansatz. Diesem Argument liegt ein ethnisches, also eher abgeschlossenes und herkunftsorientiertes Verständnis von Staatsbürgerschaft und Mitgliedschaft in der nationalen Gemeinschaft zugrunde.
Die Vorstellung, dass Wahlrecht und Staatsbürgerschaft unabhängig voneinander bestehen, war historisch gesehen in den USA stark verbreitet. In mehreren Staaten der USA war es bis in die Zwischenkriegszeit üblich, dass „Neuankömmlinge“ bereits politische Rechte hatten, bevor sie zu vollwertigen Staatsbürger*innen wurden. Dies war als eine Art „Vorbereitung“ oder „Einschulung“ für die Staatsbürgerschaft gedacht (vgl. Bauböck 2006: 119). Dem entspricht auch der heutige Gedanke mancher Staaten, dass die kommunale Ebene eine Art „Schule“ der Demokratie sein könnte, wo demokratische Strukturen und Abläufe erlernt werden können.
Zuwander*innen als Stakeholder einer Gesellschaft
Der Politologe Rainer Bauböck schlägt ein Konzept des stakeholder citizenship vor und orientiert sich dabei an dem anfangs erklärten demokratischen Prinzip der Unterworfenheit von Gesetzen (all subjected principle). Dieses argumentiert, dass alle Menschen, die den Gesetzen eines Staates unterworfen sind, auch politische Teilhaberechte haben sollten, um die Gesetzgebung mitzubestimmen bzw. zu kontrollieren. In einer radikalen Auslegung würde dies bedeuten, dass die Teilhaberechte bei jeder politischen Abstimmung anders verteilt wären, weil die Menschen von verschiedenen Gesetzen unterschiedlich betroffen sind. Bauböck versucht dieses Abgrenzungsproblem des all subjected principles dadurch zu lösen, dass er den Begriff des stakeholders einführt. Ein stakeholder ist dabei nicht nur irgendjemand, der (zufällig) einem Gesetz unterworfen ist, sondern jemand, der eine tatsächliche Bindung (genuine link) zu einem Staat hat. Stakeholding wird als eine „soziale Relation zu einem Gemeinwesen beschrieben, in der Individuen ein Interesse an Mitgliedschaft haben (und nicht nur an Beteiligung in konkreten Entscheidungen), weil ihre fundamentalen Rechte vom Schutz durch diese besondere Gemeinschaft abhängen und weil ihr individuelles Wohlergehen mit dem Gedeihen des Gemeinwesens strukturell verknüpft ist“ (Bauböck 2006: 125).
In dieser Vorstellung erwerben Menschen, die über einen gewissen Zeitraum in einem Staat leben und aktiv an der Gesellschaft beteiligt sind und mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen System leben, gewisse Rechte und Interessen: Das Interesse daran, sich an der weiteren Gestaltung und Entwicklung dieses Gemeinwesens zu beteiligen, wird als legitim anerkannt und in ein Recht umgewandelt. Daher plädiert stakeholder citizenship für die Erteilung des Wahlrechts an Menschen, die einen bestimmten Zeitraum, den ein Staat selbst definieren kann, legal dort leben. Auf diese Art kann die politische und gesellschaftliche Inklusion gesteigert werden, ohne die Staatsbürgerschaft an „Fremde“ zu verleihen, was besonders in Gemeinschaften, die sich über kulturelle Herkunft definieren (wie beispielsweise Österreich und Deutschland) eine Option zur Steigerung der politischen Inklusion sein kann.
Empirische Bedeutung des Wahlrechts für Drittstaatsangehörige
Die Auswirkungen des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige auf konkrete Politikfelder bzw. auf die politische Partizipation von Drittstaatsangehörigen (also ihrer tatsächlichen demokratischen Inklusion) sind empirisch noch wenig erforscht. Eine Fallstudie untersuchte die Situation in einigen schwedischen Städten und kam zu dem Ergebnis, dass durch die höhere Wahlbeteiligung von Nicht-Staatsbürger*innen in diesen Städten die Ausgaben für Bildung sowie für Sozial- und Familienpolitik anstiegen (vgl. Vernby 2013: 16).
Eine vergleichende Studie über die Auswirkungen des Zugangs zu politischen Teilhaberechten auf die tatsächliche Partizipation von Nicht-Staatsbürger*innen in verschiedenen Städten kam zu dem Ergebnis, dass der Zugang zum (Kommunal-) Wahlrecht noch nicht den Ausschlag zur stärkeren politischen Integration von Migrant*innen gibt. Vielmehr spielen allgemeine rechtliche und gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle, etwa das allgemeine Staatsbürgerschaftsrecht sowie die Migrationspolitik eines Staates: Die Studie verglich das Staatsbürgerschaftsregime sowie die allgemeine Fremdenrechtspolitik (nationale Ebene) in der Schweiz, Großbritannien, Schweden und Norwegen und untersuchte dann die Entwicklung der Wahlbeteiligung an Kommunalwahlen in je einer Stadt jedes Landes.
Diese Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass in Staaten mit einer allgemein restriktiven Zuwanderungspolitik trotz der Erweiterung des Wahlrechts auf denizens auf der kommunalen Ebene deren Beteiligung an Wahlen relativ gering blieb (Beispiele hierfür sind Genf und Oslo), im Gegensatz dazu war die politische Teilhabe auf kommunaler Ebene von Migrant*innen in Staaten, wo das allgemeine Staatsbürgerschaftsregime liberaler geregelt ist, deutlich höher (Beispiele sind London und Stockholm) (vgl. Gonzalez-Ferrer/Morales 2013: 461-463). Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist auch der erneute Hinweis darauf, dass die Ermöglichung von politischer Teilhabe nicht automatisch die Integration von Drittstaatsangehörigen fördert und die Einwanderungsstaaten keineswegs aus ihrer Verpflichtung zu einer aktiven Integrationspolitik entlässt.
Es gibt auch Beispiele, in denen Stadtverwaltungen ein so genanntes Ausländerwahlrecht, also das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Drittstaatsangehörige, einführen wollten, jedoch an Urteilen der Verfassungsgerichte scheiterten. In Wien wurde beispielsweise 2002 ein solches Wahlrecht auf Bezirksebene beschlossen für Bürger*innen, die seit fünf Jahren durchgängig ihren Hauptwohnsitz in Wien hatten. 2004 wurde dies durch den Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben (Urteil des VfGH G 218/03 vom 30.6.2004). In Bremen scheiterte ein ähnlicher Vorstoß der Landesregierung, Unionsbürger*innen das Wahlrecht auf Landesebene zu gewähren, an einem ablehnenden Urteil des Bremer Staatsgerichtshofs. In seinem Urteil vom 31. Jänner 2014 hielt er folgendes fest: „Zu erwägen ist, ob die Menschenwürde dazu verpflichtet, eine Kongruenz zwischen dem Wahlvolk und den dauerhaft von deutscher Staatsgewalt Betroffenen herzustellen.“ Der Gerichtshof spricht also die prinzipielle Problematik des Ausschlusses von bestimmen Bevölkerungsschichten von politischer Mitbestimmung an, dennoch wurde der Gesetzesentwurf in seiner Ganzheit als verfassungswidrig abgelehnt (Staatsgerichtshof Bremen 2014).
Das Modell des denizenship bzw. des stakeholder citizenship wird in manchen europäischen Staaten bereits (auf kommunaler Ebene) praktiziert, Beispiele sind etwa Schweden, Niederlande, Finnland oder Dänemark. In der Schweiz gibt es aufgrund des starken Föderalismus das kommunale Ausländerwahlrecht nur in manchen Kantonen, beispielsweise Genf, wobei es auch Kantone gibt, die auf kantonaler Ebene Wahlrechte für Drittstaatsangehörige gewähren, beispielsweise die Kantone Jura und Neuenburg. Die jeweiligen Fristen, nach wie vielen Jahren Aufenthalt politische Mitbestimmung möglich ist, variieren dabei zwischen 3 Jahren (Schweden) und zehn Jahren (Schweizer Kanton Jura) (vgl. Bauer 2008: 4-10; Earnest 2003: 18).
Mehrfachidentitäten – Mehrfachstaatsbürgerschaften
In Bezug auf neue Modelle von Citizenship wird auch die Verleihung von Doppel- oder Mehrfachstaatsbürgerschaften diskutiert. In manchen Staaten ist es nicht oder nur schwer möglich, die „alte“ Staatsbürgerschaft zu behalten, wenn man eine „neue“ annimmt. Andererseits verlangen manche Staaten von ihren Bürger*innen, die eine zweite Staatsbürgerschaft annehmen, die ursprüngliche abzulegen. Dies kann manche Menschen davon abhalten, sich um die Staatsbürgerschaft ihres Wohnsitz-Staates zu bewerben. Einerseits, weil mit der ursprünglichen Staatsbürgerschaft auch die eigene Lebensgeschichte und Identität verknüpft ist, die man nicht restlos aufgeben möchte bzw. kann es auch ganz simple rechtliche oder praktische Gründe haben (z. B. wenn man Familie oder Besitz im anderen Staat hat). Andererseits gibt es auch Staaten, in denen der Prozess der Zurücklegung der Staatsbürgerschaft schwierig, langwierig und kostenintensiv ist. In der heutigen globalisierten, schnellen und mobilen Welt gibt es jedoch viele Menschen, die sich zu mehr als nur einem Ort oder Staat dieser Welt zugehörig fühlen (vgl. Bauböck 2006: 126). Mehrschichtige Identitäten und Identifikationen sind häufig und als eine Art praktische Umsetzung des theoretisch entworfenen global citizenships aufzufassen. Das ursprüngliche Argument mancher Staaten, Doppelstaatsbürgerschaften als Ausdruck mangelnder Loyalität zu oder Identifikation mit einem Nationalstaat zu betrachten, erscheint daher nicht mehr adäquat. Vielschichtige Identitäten sowie gefühlte und gelebte Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten oder Kulturkreisen ist für viele Menschen eine Realität geworden. Viele Nationalstaaten reagieren auf diesen Umstand mit einer erneuten Diskussion über die Frage der Mehrstaatigkeit, in manchen Staaten gab es diesbezüglich bereits rechtliche Anpassungen (vgl. Blatter 2011: 769).
Ein Argument von Nationalstaaten lautet, dass eine prinzipielle Akzeptanz von dualen Staatsbürgerschaften zu einer größeren Bereitschaft zur Einbürgerung führt, da diese nicht mehr mit der Zurücklegung der ursprünglichen Staatsbürgerschaft verbunden wäre. Dadurch kann sich die politische Inklusion eines demokratischen Staates erhöhen (vgl. Blatter 2011: 775). Schweden akzeptiert die duale Staatsbürgerschaft und kann auf eine seit Jahren konstante Einbürgerungsquote von etwa 6 Prozent verweisen, was vergleichsweise hoch ist. Als Einbürgerungsquote bezeichnet man den Anteil von ausländischen Personen, die sich in einem Jahr einbürgern lassen, gemessen an der gesamten ausländischen Bevölkerung. In Österreich betrug diese Einbürgerungsrate beispielsweise im Jahr 2003 (als absoluter Spitzenwert) 6 Prozent, sank dann aber infolge von rechtlichen Veränderungen (Verlängerung von Aufenthalt, der zur Einbürgerung notwendig ist) stetig ab und lag im Jahr 2020 bei etwa 0,6 Prozent der ausländischen Bevölkerung (etwa 9.000 Personen) (vgl. Statistik Austria 2020b).
Eine Studie aus dem Jahr 2012 untersuchte den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Staatsbürgerschaftsgesetzen und der Einbürgerungsquote in 15 europäischen Staaten. Dabei wurde erhoben, dass Einwander*innen der ersten Generation eher die Staatsbürgerschaft des Zielstaates haben, wenn diese leichter zugänglich ist (vgl. Dronkers/Vink 2012: 393). Überraschenderweise konnte diese Studie keinen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz von dualen Staatsbürgerschaften in den Herkunftsstaaten und der Einbürgerungsquote in den Zielstaaten feststellen. Ebenfalls interessant ist die Tatsache, dass kein statistischer Zusammenhang erkennbar ist zwischen der Herkunft aus einem so genannten Entwicklungsstaat und der Bereitschaft zur Einbürgerung in einem wohlhabenderen Staat (vgl. Dronkers/Vink 2012: 395). Auch Bildungsstand und berufliches Umfeld haben keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, sich im Zielstaat einzubürgern. Man kann also nicht argumentieren, dass sich vorwiegend ökonomisch schlechter oder besser gestellte Menschen einbürgern möchten. Dagegen kommt es stark auf individuelle Faktoren an, etwa die Sprachkenntnis, ob man selbst bereits in diesem Land geboren wurde (2. Generation) oder selbst erst zuwanderte, etc. (vgl. Dronkers/Vink 2012: 408). Damit könnte manchen politischen Gegenargumenten zur Einbürgerungspolitik Wind aus den Segeln genommen werden.
Aufgrund ihrer äußerst mobilen Bewohner*innen akzeptieren beispielsweise Mexiko sowie einige zentralamerikanische Staaten (Guatemala, El Salvador) seit einigen Jahren ebenso doppelte Staatsbürgerschaften wie mehrere südasiatische Staaten (vgl. Benhabib 2007: 168). Auch die Türkei hat in jüngeren Reformen die Möglichkeiten für eine duale Staatsbürgerschaft erweitert. Dies ist besonders für die Integration von türkischstämmigen Bürger*innen in Deutschland oder Österreich von Bedeutung: Diese Bürger*innen waren bisher mit zwei Staaten konfrontiert, die einen ethno-kulturellen Zugang zu Staatsbürgerschaft verfolgten und Mehrstaatigkeit negativ gegenüber standen. In beiden Staaten wurden diese Regime nun gelockert, was auch auf eine aktive Lobby-Arbeit von kulturellen und politischen Verbänden von Deutsch-Türk*innen in beiden Staaten zurückzuführen ist (vgl. Kaya 2012: 166). In Deutschland, das seit Jahren eine relativ niedrige Einbürgerungsquote von rund 2% verfügt, wurde im April 2014 eine Reform der so genannten Optionspflicht beschlossen. Bisher mussten sich Menschen, die per Geburt zwei Staatsbürgerschaften per Abstammung erwarben (weil der Heimatstaat des Vaters sowie der Mutter Staatsbürgerschaft auf ius sanguinis basiert), zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden. Dies konnte dazu führen, dass junge Menschen, die in Deutschland als deutsche Staatsbürger*innen geboren wurden, mit der Volljährigkeit zu Ausländer*innen wurden – mit allen Konsequenzen für Aufenthaltstitel, politische Mitbestimmung, etc. Diese Optionspflicht fällt nun für Menschen, die insgesamt 8 Jahre in Deutschland lebten, weg – sie müssen sich nicht mehr für eine Nationalität entscheiden, sondern können beide behalten (vgl. Mediendienst Integration 2014; zeit.de 2014). Eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes in der Türkei 2009 erweiterte ebenfalls die rechtlichen Möglichkeiten, eine neue Staatsbürgerschaft anzunehmen, wobei die türkische Nationalität dabei meist abgegeben werden muss. Gestärkt wurde im türkischen Staatsbürgerschaftsrecht hingegen das Element des ius soli, also die Möglichkeit, durch Geburt in der Türkei die türkische Nationalität zu erhalten. Bisher dominierte das Abstammungsprinzip stärker (vgl. Kaya 2012: 166).
Gegenbeispiele für diesen Trend zur stärkeren Akzeptanz von Doppelstaatsbürgerschaften sind Dänemark und Norwegen, die weiterhin die Zurücklegung der ursprünglichen Staatsbürgerschaft als Voraussetzung zur Einbürgerung verlangen (vgl. Brochmann/Seland 2010: 434).