Von der libertären zur sozialen Demokratie
Das Modell der Sozialen Demokratie bildet ein überwiegend europäisches Gegenmodell zu der als defizitär betrachteten engen Vorstellung der „libertären Demokratie“. Diese beschränkt den Demokratieanspruch auf den politischen Bereich. Soziale Demokratie wendet hingegen einen expansionistischen und dynamischen Demokratiebegriff an, der eine Ausweitung der demokratischen Postulate in möglichst viele Bereiche wie Wirtschaft, Bildung, Arbeitswelt etc. fordert. Die Vertreter*innen der Sozialen Demokratie (Eduard Bernstein, Hermann Heller, Thomas Meyer) befürworten eine Entwicklung von einer politischen zur sozialen Demokratie und somit „Ausdehnung des materiellen Rechtsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung“ (Heller 1971: 451, zit. nach Schmidt 2010).
Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer hat den normativ-empirischen Begriff besonders geprägt und definiert soziale Demokratie als „eine Demokratie, in der die universellen Grundrechte, wie sie von den Vereinten Nationen 1966 völkerrechtsverbindlich in Kraft gesetzt worden sind – die bürgerlichen, die politischen, die sozialen und die wirtschaftlichen – gleichermaßen gelten“ (Meyer 2011: 122). Wesentliches Fundament der sozialen Demokratie ist der Grundwert Freiheit. Jedoch begnügt sich die Theorie der Sozialen Demokratie nicht allein mit der Gewährung von negativen Freiheitsrechten (d.h., formale „abwehrende“ Rechte, die alle Bürger*innen vor Eingriffen der Gesellschaft oder des Staates schützen, z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit). Damit diese überhaupt formal für alle gelten können, müssen, so die primäre These in Meyers Theorie der Sozialen Demokratie, positive Freiheitsrechte (materiell-ermöglichende, soziale Rechte wie das Recht auf Bildung oder Arbeit) gleichrangig berücksichtigt werden (vgl. Meyer 2005b: 102). In diesem Sinne war das Ziel des damaligen SPÖ-Bundeskanzlers Bruno Kreisky die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ (vgl. Wiener Zeitung 2010).
Soziale Demokratie ist somit in erster Linie eine Gesamtverfassung, die die soziale Teilhabe aller Bürger*innen (Inklusion) garantieren soll. Daher befürworten ihre Vertreter*innen auch einen demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat, der ggf. durch sozialstaatliche Interventionen und Politik das Postulat der sozialen Gleichheit gewährleisten soll. Das soziale Demokratiemodell berücksichtigt somit nicht nur den „Input“ der Politik (Demokratie als Regelwerk), sondern auch „Output“ und teilweise das „Outcome“ der Politik (Ergebnisse politischen Handelns). Soziale Demokratie beinhaltet daher ein doppeltes Gleichheitsversprechen, das einerseits die Handlungsvoraussetzungen, andererseits die Handlungsbeschränkungen einschließt (vgl. Meyer 2011).
Kritik
Die Kritik an einem Projekt von „ungeheurer Tragweite“ (Hennis 1973: 59, zit. nach Schmidt 2010) ist vielseitig: So wird u.a. die demokratische Bevormundung durch den Staat kritisiert, indem dieser alle Bereiche gesellschaftlicher Freiheit einer demokratische Bestimmungsgewalt unterstellt. Darüber hinaus führe soziale Demokratie, so ein liberaler Kritikpunkt, in einen „schleichenden Sozialismus“. Dadurch bedrohe sie die Leistungs- und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft (vgl. Schmidt 2010).
Auch unter Vertreter*innen der Sozialen Demokratie wird ein besser ausbalanciertes Verhältnis von politischen und sozialen Rechten sowie die Übernahme von Verantwortung und Pflichten gefordert. Der Soziologe Anthony Giddens (1999) plädiert für eine Politik des „Dritten Weges“, bei dem sich die gleichberechtigten Säulen – Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – in ihren Einflusssphären gegenseitig begrenzen. Sie reagiere dabei auf die drei primären Herausforderungen moderner Industriegesellschaften: Globalisierung, technologischer Wandel und Individualisierung. Giddens (2000) zufolge ist die Politik des dritten Wegs ein Versuch herauszufinden, wie sich linke Wertorientierung, auf die sich so stark verändernde Welt anwenden lassen. So wurde sie z.B. unter der Regierung Gerhard Schröders (Deutschland) und Tony Blairs (Großbritannien) betrieben, die einen aktivierenden Staat in einer funktionierenden Marktwirtschaft statt einem passiven Wohlfahrtstaat forderten (Die Zeit, 1998). In Deutschland fallen darunter die Arbeitsmarktreformen und sozialpolitischen Maßnahmen (Hartz IV) (vgl. Dachs 2008: 25). Der Ansatz des dritten Wegs wurde dahingehend kritisiert, dass er profillos sei und es sich nur um eine geschickte Wahlkampfstrategie handle, sich dahinter allerdings neoliberale Politik im Stile Margaret Thatchers verberge (vgl. Gallus & Jesse, 2001). Diese Reformen haben letztlich dazu beigetragen, dass bspw. in Deutschland ein großer Niedriglohnsektor entstand und die Schere zwischen ärmeren und reicheren Bevölkerungsgruppen weiter auseinanderging. Auch ein gewisser Niedergang der sozialdemokratischen Parteien (bei den Wahlergebnissen) wurde damit eingeläutet bzw. verstärkt.
Politische Praxis der Sozialen Demokratie
– im Ländervergleich:
Das Konzept der Sozialen Demokratie wird größtenteils in europäischen Ländern vertreten, während in den USA das libertäre Demokratiemodell vorherrscht. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer (2009) kommt anhand eines quantitativen Vergleichs 20 OECD Länder zum Schluss, dass vor allem die skandinavischen Länder ein höchstes Maß an sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten verwirklicht haben. Österreich und die Niederlande erreichten ebenfalls gute Werte und werden als „hoch inklusiv“ eingestuft, während Deutschland nur auf mittlerem Niveau soziale Teilhabe gewährleistet. Insgesamt ist aber in Österreich seit den 1980er Jahren ein Rückzug des Staates aus Wirtschaft und Bildung zu diagnostizieren. Mit der Privatisierung großer Banken und Industrieunternehmen und Einführung privater (Fach-)Hochschulen folgte Österreich einem „westlichen“ Muster und passte sich den in Westeuropa üblichen Standards an (vgl. Pelinka 2011: 61f).
– parteipolitisch:
Der Begriff „Soziale Demokratie“ ist in der Abgrenzung zum Begriff der „Sozialdemokratie“, der eine politische Bewegung beschreibt, ein politisch unabhängiger Begriff. Soziale Demokratie wird nicht ausschließlich, aber größtenteils von Links- und Mitte-Links-Parteien, ferner ökologischen Parteien vertreten. Liberale Parteien lehnen das Konzept der Sozialen Demokratie vor allem dann ab, wenn es auf die Wirtschaft ausgedehnt wird. Thomas Meyer betont aber, dass im europäischen Ländervergleich auch durchaus christdemokratische Parteien und gesellschaftliche Organisationen große Teile des Konzepts der Sozialen Demokratie unterstützt haben (vgl. Meyer 2005: 241). Unter den großen Parteien Österreichs hat jedoch allein die SPÖ Soziale Demokratie in ihrem Parteiprogramm verankert (SPÖ, 2018). Damit bekennt sich die SPÖ offen für eine Demokratisierung aller Bereiche, inkl. der Berufswelt, und betrachtet den Prozess der Demokratisierung als eine permanente Aufgabe.