Wie das Netz tickt: Demokratische Gesellschaften im digitalen Wandel

War das Internet zu Beginn seiner gesellschaftlichen Popularität vor allem ein Datenhighway im Sinne der Informationsverbreitung (vgl. Schmidt 2012: 3), so wurde es oftmals auch als „demokratische Hoffnung“ oder als „Ort der Aufklärung“ konzeptualisiert.

Es wurden Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung über Online-Tools geschaffen, getestet und diskutiert. Sogar ein „neues Modell der Demokratie“, die so genannte Liquid Democracy, wurde entwickelt. Manche Gruppierungen wie etwa die Piraten-Partei in Deutschland, Österreich und anderen Ländern haben damit experimentiert. Die Kommunikation zwischen Staat und Bürger*innen hat sich ebenso verändert. So erfreut sich die Nutzung des Internets zur Erledigung von Amtswegen immer größerer Beliebtheit (vgl. Initiative D21/ipima 2016: 6).

Eine demokratiepolitische Hoffnung sah man im Web auch im Hinblick auf den Bereich der Informations- und Meinungsfreiheit: Der freie Zugang zu Informationen wurde in der Vergangenheit ebenso hervorgehoben wie die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Meinungsäußerung mit potentiell unendlichen Reichweiten – vor allem in Bezug auf Social Media Netzwerke mit ihrem interaktiven Potential. Das Internet wandelte sich vom reinen Informationsmedium zu einem „Ort der Kommunikation“.

Es schien, als wäre mit dem Internet eine „virtuelle Agora“ entstanden, auf der die Menschen ihre Meinungen und Positionen gleichberechtigt, frei und auf Augenhöhe austauschen könnten. Tatsächlich ermöglicht das Internet Individuen einen vorher nie dagewesenen Zugang zur Öffentlichkeit – Themen, die vielleicht sonst nur im Rahmen des Freundeskreises diskutiert wurden, können nun mit überschaubarem Zeit- und Kostenaufwand mit weitaus mehr Personen geteilt und somit in den öffentlichen Diskurs eingeführt und damit auch Machtausübung durch staatliche wie nichtstaatliche Akteur*innen stärker hinterfragt werden (vgl. Jacob/Thomas 2014: 35).

Manchmal bilden sich sogenannte Crowds oder Schwärme, die zwar nicht über Entscheidungskraft verfügen, jedoch durch die „Fixierung auf ein geteiltes Thema zusammengehalten“ werden (Schmidt 2015: 86). So entstehen beispielsweise Hashtags auf Twitter oder Memes, die online verbreitet werden, neue mediale Phänomene, die handlungsleitende Kraft entfalten können, jedoch auch sehr flüchtigen Charakter haben (ebd.).

Die Gründerin der deutschen Socialbar – einem „Lernort einer modernen Zivilgesellschaft“, was Soziale Medien, Kulturwandel & Bürgergesellschaft betrifft – Sophie Scholz, vertritt die Meinung, dass das „Bürger-Sein“ durch die sozialen Medien gestärkt werden könnte (vgl. bpb.de). Diese würden Gemeinschaften fördern, Transparenz schaffen und eine effiziente Selbstorganisation ermöglichen, wie im Herbst 2015 im Zuge der Fluchtbewegungen oder auch schon früher im Jahr 2009 im Rahmen der Studierendenproteste ersichtlich wurde. Christine Weitbrecht spricht in diesem Zusammenhang von einer historisch einzigartigen partizipativen Kultur, die es jedem Mitglied einer Gesellschaft ermöglichen würde, sich öffentlich zu äußern, Medieninhalte zu schaffen und zu veröffentlichen sowie diese zu verbreiten (vgl. Weitbrecht 2015: 108).

Gleichzeitig bedient sich die etablierte Politik der neuen medialen Möglichkeiten, um auf eigene Anliegen aufmerksam zu machen und in diesem Sinne ihre Interessen auch online zu verfolgen. In diesem organisierten Kontext spielen personelle und finanzielle Ressourcen wieder eine zunehmende Rolle (vgl. Schmidt 2012: 7) – das Erzielen besonders hoher Reichweiten ist auf sozialen Netzwerken oftmals mit Werbeausgaben verbunden, und neue professionelle Kompetenzen zur Betreuung von Social Media-Kanälen sind auch im politischen Bereich zunehmend gefragt.

Während sich die Anzahl der Internetnutzer*innen weltweit kontinuierlich erhöht, sorgen Faktoren wie Bildung, Einkommen, Alter und Herkunftsland immer noch für den sogenannten digital divide (vgl. pewreseach.org ). Wenngleich für die Teilhabe am digitalen Diskurs in Europa das ökonomische Kapital eines Individuums eine geringere Rolle spielt als früher, sind es im Anschluss an Pierre Bourdieu neue Formen kulturellen Kapitals, über die es zu verfügen gilt: „Erstens verlangt die schiere Masse an potenziell verfügbaren Informationen nach Strategien zur Erfassung der jeweils relevanten Informationen und zum Umgang mit großen Datenmengen. Zweitens ist es notwendig, die ‚Spielregeln‘ des Internets zu kennen, um der eigenen Stimme im Internet Gehör zu verschaffen. Drittens schließlich ist in vielen Teilen der Welt ein vergleichsweise anspruchsvolles technisches Wissen Voraussetzung, um staatliche Zensurmaßnahmen zu umgehen“ (Jacob/Thomas 2014: 37).

Während der unbegrenzte Zugang zu Informationen und die Generierung von Öffentlichkeit der Demokratisierung also auf den ersten Blick Vorschub leistet, gibt es durchaus auch Vorbehalte was die inklusive Rolle des Internets und den Beitrag zu fundierter Weiter- und Willensbildung betrifft. Auch hier haben sich neue Wege und Möglichkeiten abseits der herkömmlichen Medien eröffnet, die zuweilen jedoch Konfliktpotential bergen und der Demokratisierung nicht per se Vorschub leisten – so bilden sich im Netz nicht nur „emanzipativ-aufklärerische Gegenöffentlichkeiten […] auch politisch radikale, undemokratische Standpunkte und Inhalte können leichter verbreitet werden“ (Schmidt 2012: 6f.).

Der Soziologe Jan-Hinrik Schmidt spricht zudem von einem neuen Typ von Öffentlichkeit, die er als „persönliche Öffentlichkeit“ bezeichnet. Diese unterscheide sich von den Öffentlichkeiten publizistischer Massenmedien durch folgende Merkmale: Informationen würden vorrangig nach persönlicher Relevanz ausgewählt und geteilt und nicht nach gesellschaftlicher bzw. professionell-journalistischer Relevanz; Nutzer*innen würden nur eigene Kontakte bzw. Follower adressieren und nicht ein Massenpublikum wie der professionelle Journalismus; Kommunikation sei stärker auf Konversation als auf einseitiges Publizieren ausgerichtet (ebd.: 4). Daraus ergeben sich aus demokratiepolitischer Sicht einige Herausforderungen: Wie Christine Weitbrecht schreibt, demokratisiert das Internet zum einen Information – „ein Internetnutzer muss sich nicht mehr länger nur auf das Wort weniger Personen in seinem Umfeld oder in den Massenmedien verlassen, sondern kann direkt recherchieren, was andere […] dazu sagen“ (Weitbrecht 2015: 111). Es entsteht also eine verstärkt kritische Öffentlichkeit – beispielsweise im Hinblick auf das Thema Konsum; so sind auch Unternehmen zusehends gefordert, den Dialog mit kritischen Kund*innen online zu führen und entsprechende Maßnahmen zu setzen (ebd.: 120f.). Das Internet ist nicht nur ein virtueller Raum, in dessen Rahmen bestehende Machtstrukturen hinterfragt werden, sondern ebenso ein Ort, an dem selbst Kämpfe um Macht und Deutungshoheit stattfinden. So können auch gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten stärker Gehör finden. Von der abnehmenden Rolle journalistischen Gatekeepings profitieren jedoch besonders auch jene, deren antidemokratische Äußerungen durch entsprechende gesellschaftliche und mediale Filter früher kaum Öffentlichkeit generierten, wie beispielsweise Vertreter*innen radikaler politischer Positionen und menschenverachtender Ideologien (vgl. Müller 2008: 114). Wie Jürgen Bremer (2013: 25) schreibt, ist zudem „nicht alles, was dargeboten wird, […] offensichtlicher Unsinn. Es ist die Verschmelzung aller Informationsmöglichkeiten, die unsere Sinne und unseren Geist noch schneller verwirren und verführen als in der analogen Welt“. Es sind jene entstehenden vielfältigen Teilöffentlichkeiten, die einem gemeinsamen demokratischen Austausch zuwiderlaufen und sowohl durch die eigene inhaltliche Selektion als auch technische Funktionsweisen online befördert werden.