Thema der dritten Unterrichtssequenz ist die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, eine der am heftigsten umkämpften Fragen im politischen Diskurs der 1970er Jahre, und die sogenannte Neue (oder Zweite) Frauenbewegung, die als neue soziale Bewegung ihre Interessen über die Parteigrenzen hinweg formulierte und für diese auch auf die Straße ging. Die Forderungen der neuen Frauenbewegung betrafen in erster Linie eine Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses. Sie brachten aber auch die Frage auf, was politisch und was privat ist. In der Entscheidungsfreiheit über den eigenen Körper (Schwangerschaftsabbruch) wurde ein wichtiger Beitrag zur Selbstbestimmung der Frau gesehen, Demokratisierung bedeutete in diesem Sinn v.a. eine Vergrößerung der Entscheidungsfreiheit. In der Unterrichtssequenz werden zwei Filmbeispiele aus der Austria Wochenschau behandelt, wobei im ersten Filmbeispiel (Heißes Eisen § 144) die Frage der Schwangerschaftsabbruchs und die verschiedenen hierzu in den 1970er Jahren vorhandenen Positionen im Mittelpunkt stehen und im zweiten Filmbeispiel (Demonstrationen gegen § 144) die Frage der Durchsetzung politischer Forderungen dominiert.
Die Schüler*innen sollen sich beide Filme gemeinsam mit den Lehrpersonen ansehen und diese anschließend in einer Diskussion in der Klasse anhand der unten angeführten Fragen (Arbeitsaufgaben) diskutieren. Wichtig ist hierbei – ausgehend von der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und einer der Hauptaussagen der Zweiten Frauenbewegung, wonach das Private politisch ist – die Erörterung der Frage, was politisch ist und was nicht bzw. wie weit der Staat in das Handeln der Menschen eingreifen soll.
Zum Medium und zum Umgang mit dem Medium im Unterricht: Die Austria Wochenschau
Heißes Eisen § 144, Beitrag Nr. 2 in der Austria Wochenschau, Ausgabe 8/1972 (3.20 min)
Ort: Österreich
Originaltext:
„Ja, ich bin absolut für die Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung, das reine Vorhandensein des § 144 bedeutet eine absolute Ungleichheit zwischen Mann und Frau und ich finde, dass eine persönliche Entscheidung absolut bei der Frau liegen muss.“ Sind Sie für die Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung?“ „Nein, weil ich aus katholischen Gründen dagegen bin, weil man nicht das Recht hat, ein Leben zu töten.“ Der Embryo ist für Sie Leben? „Ja, auf jeden Fall, und es gibt sicher andere Möglichkeiten, wenn man ein Kind nicht will, eben zur Adoption freizugeben oder solche Dinge zu machen.“ „Frauen aus sozial höher gestellten Schichten mit mehr finanziellen Mitteln und mit mehr Bildung ist es immer möglich gewesen, dieses Gesetz zu umgehen.“ Die Schwangerschaftsunterbrechung gehört zu den heißen Eisen der österreichischen Innenpolitik. Der § 144 des Strafgesetzbuches verbietet die Abtreibung unter fast allen Umständen. Justizminister Dr. Broda will dieses strenge Verbot lockern. Die katholische „Aktion Leben“ hat sich gegen jede Reform ausgesprochen. Auf der anderen Seite wird die völlige Freigabe der Abtreibung gefordert. Was sagt der Jurist dazu? Frau Staatsanwalt Dr. Haimberger meint: „Wenn aber zum Beispiel durch einen Verkehrsunfall eine Fehlgeburt verursacht wird, so haftet der Fahrlässigkeitstöter, also der, der den Unfall verursacht hat, nur für die Verletzung der schwangeren Frau. Für die Vernichtung des werdenden Lebens kann er aber ebenso wenig zur Verantwortung gezogen werden, wie zum Beispiel ein Mörder, der eine Schwangere in Kenntnis ihres Zustandes umbringt. Ja, es sieht so aus, als würde das österreichische Strafgesetzbuch da zwei Meinungen vertreten und zwar einerseits erkennt es das werdende Leben, und zwar egal in welchem Zustand der Reife, als einen Teil der Mutter an, andererseits bestraft es die Mutter wegen Abtreibungen. Man könnte also sagen, dass der § 144 so etwas wie ein Gebärgebot ist.“ Ist dieses gesetzliche Gebärgebot aber noch sinnvoll? Ist eine Abtreibung wirklich so gefährlich? Dazu Primarius Dr. Rockenschaub: Wie gefährlich ist eigentlich eine Schwangerschaftsunterbrechung? „Wenn eine Schwangerschaftsbeendigung ordentlich und lege artis, wie wir sagen, durchgeführt wird, dann ist sie eigentlich wesentlich weniger gefährlich als das Austragen einer Schwangerschaft. Man kann sagen, dass eine lege artis durchgeführte Schwangerschaftsbeendigung in den ersten zehn Wochen zehn mal weniger gefährlich ist, als das Austragen einer solchen Schwangerschaft.“ Und wie steht es mit der illegalen Schwangerschaftsunterbrechung? „Da ist natürlich eine große Dunkelziffer drinnen, aber schätzungsweise dürfte hier auf 1.000 Versuche ein mütterlicher Todesfall kommen. Während zum Beispiel die Statistiken in Ungarn und in der Tschechoslowakei ergeben haben, dass bei kunstgerecht durchgeführten Schwangerschaftsunterbrechungen vielleicht zwei Todesfälle auf 100.000 Unterbrechungen kommen.“ Bleibt die Frage offen: Warum zwingt der Staat Frauen dazu, Kinder in die Welt zu setzen?
Arbeitsaufgaben für Schüler*innen
Seht euch den Film Heißes Eisen § 144 (Austria Wochenschau 8/72, Beitrag 2) an. Anschließend werden gemeinsam folgende Fragen diskutiert:
Zum Inhalt des Films:
- Was ist das Thema des Films?
- Welche Akteur*innen treten auf und wen vertreten sie?
- Welche Positionen können festgestellt werden?
- Welche Argumente werden für oder gegen das Abtreibungsverbot genannt?
- Welche Positionen überwiegen?
- Inwiefern wird im Beitrag das Thema Demokratie angesprochen?
- Was wird zum Thema Geschlechterdemokratie gesagt?
- Was sagt der Film zum Verhältnis Bürger*in und Staat?
- Was hat die Fragestellung mit dem Thema Demokratie zu tun? (Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung)
Zur Gestaltung des Films:
- Wie ist der Film aufgebaut bzw. welche Bausteine verwendet er (Interviews, Sprecher*in aus dem Off)?
- Wie werden die verschiedenen Bausteine eingesetzt?
- Wie endet der Film?
- Ist der Film objektiv und abwägend, werden verschiedene Standpunkte einbezogen?
- Wie wird Objektivität erzeugt und schafft es der Film trotzdem, eine klare Position zu vertreten und den Zusehenden nahezubringen?
Demonstration gegen § 144, Beitrag Nr. 2 in der Austria Wochenschau, Ausgabe Nr. 47/1973, (1.11 min)
Ort: Österreich
Inhalt: Demonstrationen gegen den § 144, Protestlied, Vorsprache bei Justizminister Broda.
Originaltext:
Demonstration gegen den Paragraph 144 in Wien: Die „Aktion unabhängiger Frauen“ tritt dafür ein, dass nur noch Wunschkinder geboren werden. Originalton! Mit einem Straßentheater werben die Frauen für ihre Ziele. Originalton! Eine Delegation spricht anschließend bei Justizminister Broda vor. Sie fordert zusätzliche Kindergärten und Tagesschulen, bessere Aufklärung und kostenlose Bereitstellung von empfängnisverhütenden Mitteln.
Arbeitsaufgaben für Schüler*innen
Seht euch den Film Demonstrationen gegen den § 144 (Austria Wochenschau 47/73, Beitrag: 2) an. Anschließend werden folgende Fragen diskutiert.
Zum Inhalt des Films:
- Welche Akteur*innen treten auf?
- Was fordern die Frauen?
- Wie versuchen sich die Frauen Gehör zu verschaffen bzw. welche Instrumente setzen sie ein?
- Wer tritt neben den Frauen noch als Akteur auf?
- Inwiefern spricht der Film das Thema Demokratie an?
- Was hat Selbstbestimmung mit Demokratie zu tun?
- Warum ist es für die Frauen wichtig, selbst entscheiden zu können, ob, wann und wie viele Kinder sie haben werden?
Zur Gestaltung des Films:
- Wie ist der Film aufgebaut bzw. welche Bausteine verwendet er (Interviews, Sprecher*in aus dem Off)?
- Wie werden die verschiedenen Bausteine eingesetzt?
- Wie endet der Film?
- Ist der Film objektiv und abwägend, werden verschiedene Standpunkte einbezogen?
- Wie wird Objektivität erzeugt und schafft es der Film trotzdem, eine klare Position zu vertreten und den Zusehenden nahe zu bringen?
Abschlussdiskussion
Eine der zentralen Aussagen der Zweiten Frauenbewegung war die Aussage, dass das Private politisch ist. Ausgehend von dieser Feststellung sollen die Schüler*innen folgende Fragen diskutieren:
- Inwiefern wird diese Forderung in den beiden Filmbeispielen angesprochen?
- Was wurde in den beiden Filmbeispielen über das Verhältnis von Staat und Bürger*in gesagt?
- Wie weit soll der Staat nach der Meinung der Schüler*innen in das private Leben eingreifen können?
- Wie weit soll dem Menschen Entscheidungsfreiheit zukommen?
- Es gibt vor Abtreibungskliniken immer wieder Demonstrierende, die versuchen, Frauen von einer Abtreibung abzubringen, obwohl das „Recht auf eine Abtreibung“ innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate im Gesetz verankert ist: Was halten die Schüler*innen davon?
Nach wie vor ist ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich laut Strafgesetz (§ 96) verboten. Er ist allerdings nicht strafbar, wenn er innerhalb der ersten drei Monate nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird (§ 97). Was könnten Unterschiede zwischen einer legalen Handlung und einer nicht strafbaren Handlung sein?