Mit fortschreitender Globalisierung und der wachsenden wirtschaftlichen wie politischen Verknüpfung der Staaten werden in gewissen Politikbereichen nationalstaatliche Souveränität und Entscheidungsmacht eingeschränkt. Dies kann einerseits daran liegen, dass viele Materien sinnvollerweise auf internationaler Ebene bearbeitet werden, wie etwa Umwelt- und Klimapolitik, da der weltweite Klimawandel politische Anstrengungen aller Staaten der Welt erfordert. Andererseits wurden in der Vergangenheit immer mehr internationale Organisationen und Regime geschaffen, deren (mehr oder weniger verbindliche) Regelungen die nationalstaatliche Entscheidungsfreiheit zugunsten gemeinsamer, internationaler Regelungen beschränken. Für solche Formen der überstaatlichen Zusammenarbeit hat sich der Begriff der Global Governance durchgesetzt. „Der Verlust territorialer staatlicher Souveränität wird dieser Vorstellung zufolge durch eine globale öffentliche Politik substituiert, die von unterschiedlich zusammengesetzten Gremien, Expertenkommissionen, Netzwerken, Nicht-Regierungsorganisationen und private-public partnerships organisiert werden soll (vgl. Reinecke 1998: 277ff, in Müller 2011: 15). Von vielen werden Global Governance-Prozesse als ein wichtiger Entwicklungsschritt zu mehr Nachhaltigkeit und Beteiligung verstanden, da nicht alleine staatliche Repräsentant*innen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, sondern auch Expert*innen und Wissen-schaftler*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und NGOs. Das bedeutet, dass Governance-Prozesse prinzipiell offener sind für verschiedene Akteur*innen. Andererseits wird von vielen kritisiert, dass Entscheidungen immer weniger von demokratisch legitimierten Akteur*innen oder Institutionen getroffen werden, dass häufig nicht transparent ist, welche Akteur*innen mit welchen Interessen in den Entscheidungsprozess eingebunden waren (z.B. Lobbying) sowie die große Bedeutung von technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und von so genannten Management-Strategien, mit denen Entscheidungen häufig begründet werden. Ins Hintertreffen geraten dabei demokratische Legitimation, Transparenz und vor allem die Verortung von politischer Verantwortung (vgl. Blühdorn 2011: 20). Je stärker Entscheidungen „technokratisch“ getroffen oder legitimiert werden, desto geringer sind der politische Charakter von Entscheidungen und die politische Verantwortung (siehe bspw. Müller 2011; Brunnengräber 2011; Weish 2011). Auf den Einfluss neoliberaler Ansichten, Management-Techniken und dem Vorherrschen eines wirtschaftlichen Zugangs zu Problemstellungen aller Art fokussieren sich letztlich auch viele der grundlegenden Kritiken an Globalisierungs- und Governance-Prozessen. „Ein manageriales Politikverständnis und die Dominanz von Unternehmensinteressen“ unterlaufen eine „demokratisch legitimierte Global Public Policy oder eine „ökologische Global Governance“ (Müller 2011: 10). Eine ausführliche Analyse mit möglichen Lösungsmöglichkeiten hat dazu Ulrich Brand in seinem Beitrag „Global Governance: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Demokratisierung und demokratischer Nachhaltigkeit?“ verfasst.
Brand nennt fünf Elemente, die den dominierenden Diskurs zu Global Governance charakterisieren:
- Eine Art „Kantsche Weltföderation mit einem Minimum an Zentralstaatlichkeit“
- Internationale Koordination, Kooperation und kollektive Entscheidungsfindungen, bei denen Nationalstaaten sich zur Einhaltung internationaler Regelungen verpflichten
- Daraus resultiere „Souveränitätsverzicht und eine Entgrenzung von Politik“
- „Regionalisierung der internationalen Beziehungen“ als Basis von Global Governance
- Große Bedeutung von nicht-staatlichen Akteur*innen
Als Grundproblem benennt Brand, dass die heutige Staatenwelt, das System der internationalen Politik (eben Global Governance) sowie die internationalen Wirtschaftsbeziehungen – auch und vor allem in der internationalen Klima- und Umweltpolitik – als gegeben und unveränderbar angenommen werden und somit automatisch als Teil der Lösung von Problemen angesehen werden, niemals jedoch ihr möglicher Beitrag zur Entstehung oder Verlängerung eines Problems hinterfragt werde.
Als Beispiel nennt er, dass das globale Wirtschaftssystem nicht als ein wesentlicher Verursacher des Klimawandels konzeptualisiert werde, sondern dass – im Gegenteil – mehr Wirtschaftswachstum als Teil der Lösung des Problems angesehen wird. Anstatt also grundlegende Strukturen eines Systems zu hinterfragen, werden sie als gegeben vorausgesetzt, was die Perspektive auf mögliche Lösungswege verengt.
Die Aufforderung, scheinbar selbstverständliche Grundannahmen und Rahmenbedingungen von politischem, wirtschaftlichem oder auch gesellschaftlichem Handeln zu hinterfragen und zu problematisieren, ist ein wichtiger Teil des kritischen Analyserahmens, wenn es darum geht, umfassende Nachhaltigkeit auf verschiedenen Ebenen zu erreichen. Brand macht darauf aufmerksam, dass etablierte Diskurse und Argumentationsstränge häufig dazu beitragen, Problemlagen und mögliche Lösungsansätze zu verdecken, weshalb ein tiefgehender Perspektivenwechsel notwendig sei.
Ebenso wichtig sei die Reflektion des vorherrschenden Politik- und Machtbegriffs. Brand weist darauf hin, dass Politik im Global Governance-Diskurs als „Herstellung verbindlicher Kollektiventscheidungen und möglichst effiziente Erreichung öffentlicher Ziele“ definiert werde, in Anlehnung an David Easton. Politik wird also vor allem als staatliche Intervention im öffentlichen Interesse, sowie als Bereitstellung von materiellen und immateriellen Ressourcen und von rechtlich verbindlichen Entscheidungen konzeptualisiert. Macht bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem Durchsetzungsmacht, wohingegen strukturelle Machtverhältnisse eher ausgeblendet werden. Ulrich Brand weist daher darauf hin, dass eine kritische Analyse von Globalisierung und Global Governance vor allem herausarbeiten müsse, was der dominante Diskurs auslässt – „Was ist nicht benannt?“ Es ist wichtig, das Unhinterfragte zu hinterfragen und das Unsichtbare sichtbar zu machen, damit politische Entscheidungen und Strukturen nicht als „alternativlos“ hingenommen werden, sondern gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge immer wieder neu ausverhandelt werden können. Auf diese Weise können auch neue Formen der Problemlösung erarbeitet werden. Im Zentrum des Global Governance Diskurses sollte letztlich die demokratische Gestaltung des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur stehen. Dafür sei es aber notwendig, auf eine Veränderung bestehender (globaler) Machtverhältnisse hinzuarbeiten. Politik müsse wieder verstärkt als „Streit um grundlegende Alternativen, als Anerkennung und Austragung von Konflikten“ wahrgenommen werden, das blinde Vertrauen auf „Staat und zwischenstaatliche Politik, Markt und moderne Technologien“ als Problemlöser sollte durch aktiveres politisches Gestalten auch unter Einbeziehung nichtstaatlicher AkteurInnen ergänzt werden.
Nachhaltige Weiterentwicklung der Demokratie
In den letzten Jahren haben Debatten über mögliche Demokratiereformen und Stärkung der direkten Demokratie in vielen westlich-liberalen Demokratien an Bedeutung gewonnen, häufig in Reaktion auf diagnostizierte „Politikverdrossenheit“, Forderungen seitens der Bürger*innen nach mehr Mitbestimmung und Transparenz oder als Weiterentwicklung des politischen Systems gemäß neuen technologischen Möglichkeiten im 21. Jahrhundert (z.B. Debatten um e-Voting und ähnliches). Auch in Österreich gibt es zahlreiche Initiativen, die Forderungen nach „mehr Demokratie“ oder mehr „direkter Demokratie“ aufstellen. Im ersten Halbjahr 2015 wurde eine parlamentarische Enquete-Kommission zu diesem Thema abgehalten. Christoph Konrath beschreibt und vergleicht in seinem Beitrag zum Buch „Demokratie als Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaft“ unter dem Titel „Demokratiereformprojekte und nachhaltige Weiterentwicklung von Demokratie“ Reformprojekte in verschiedenen Staaten und analysiert unterschiedliche Zugänge und Ergebnisse in den jeweiligen Debatten.
Konrath definiert „Demokratiereform“ nach dem Politologen Helms als legale Veränderung bestehender Strukturen, die zu einer Umverteilung von Macht im politischen System führt. Weiters hebt er hervor, dass Reformdebatten über neue Formen von Partizipation in den letzten 20 Jahren zwar deutlich mehr Akteur*innen einschließen und somit breiter geworden sind; sobald die Thematik jedoch von der institutionalisierten Politik aufgegriffen wird, verengt sich die Fragestellung – vor allem im deutschsprachigen Raum – meist auf die Frage des Verhältnisses zwischen direkter und repräsentativer Demokratie.
Als Kriterien zur Beurteilung eines Reformprozesses im Sinne der Nachhaltigkeit nennt Konrath:
- Inklusivität und Zugänglichkeit zu den Reformprozessen
- Kontrolle über das Verfahren
- Möglichkeiten ausgewogener Meinungsbildung und Entscheidung
- Transparenz
- Effizienz
- Übertragbarkeit erprobter Modelle auf andere soziale, politische und rechtliche Kontexte.
Wichtig sei für Reformprozesse, dass genügend Zeit für Konsultationen und Meinungsbildung aller AkteurInnen vorhanden sei, damit langfristige Veränderungen und Entwicklungen angestoßen werden können. Inklusive und intensive Partizipations- und Diskussionsprozesse haben in einer demokratischen Gesellschaft einen Wert an sich, da sie demokratische Praktiken und Überzeugungen stärken helfen. Die konkreten Auswirkungen von Reformen können jedoch stets erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand beurteilt werden. Beispielhaft dafür nennt der Autor zwei Reformprozesse aus der österreichischen Geschichte. Einerseits weist er darauf hin, dass trotz nur punktueller Reformen bei z.B. Volksbegehren, Minderheitenrechten im Parlament, etc. die österreichische Gesellschaft und Verwaltungskultur in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Demokratisierung in ihrer Praxis und ihrem Selbstverständnis erlebt habe. Geringe institutionelle Veränderungen hatten also – aufgrund veränderter demokratischer Praxis – große und nachhaltige Auswirkungen. Demgegenüber nennt der Autor den umfassenden gesetzlichen Reformprozess im Bereich des Bundeshaushaltsrechts und der Verwaltungssteuerung seit 2000 als große (formale) Reform, die in der demokratischen Praxis der beteiligten Akteur*innen bisher aber nur geringe Veränderungen zeitigte. Dies zeige einmal mehr, dass Demokratie nicht nur eine Form der Entscheidungsfindung, sondern vielmehr eine Lebensform sei. Deshalb sei die Gestaltung und kontinuierliche Weiterentwicklung der demokratischen Praxis mitunter bedeutender als formale oder rechtliche Vorgaben. Diese bieten letztlich nur den Rahmen für Handlungsmöglichkeiten – es kommt aber auf die Menschen an, diesen Rahmen auch zu nützen und zu gestalten.
In diesem Kontext müssen auch Fragen nach finanziellen, rechtlichen und praktischen Herausforderungen beantwortet werden, damit tatsächlich möglichst viele Menschen an demokratischen Prozessen und Partizipationsverfahren teilnehmen können. Abgesehen von Zeit und sozioökonomischen Faktoren spiele eine stärkere (politische) Bildung ebenso eine große Rolle dabei, Menschen zur aktiven Teilnahme am demokratischen Prozess zu ermutigen.
Christoph Konrath benennt in seinem Beitrag drei Aspekte von „nachhaltiger Demokratieentwicklung“:
- Weiterentwicklung politischer und administrativer Praxis mit dem Ziel längerfristiger oder nachhaltiger Planung
- Grundsätzliche Thematisierung der Weiterentwicklung der demokratischen Praxis
- Weiterentwicklung des konkreten institutionellen Settings und der Ressourcenausstattung
In österreichischen Reformdebatten wird vor allem die Weiterentwicklung des Wahlrechts sowie die Stärkung oder Modifizierung bestehender Instrumente direkter Demokratie (Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung) thematisiert. Trotz zahlreicher zivilgesellschaftlicher Initiativen und Forderungen wird die Debatte thematisch enggeführt, was auch die parlamentarische Enquete-Kommission zeigte. Auch der politische Diskussionsprozess an sich bezieht vorwiegend institutionalisierte Akteur*innen, vor allem Parteien und Sozialpartner ein, stellt aber keinen breiten, inklusiven gesellschaftlichen Aushandlungsprozess dar.
Als Gegenbeispiel führt Konrath die Enquete-Kommission des Salzburger Landtags an, die eine breite Themenpalette behandelte, verschiedene Möglichkeiten für eine breite Bürger*innenbeteiligung bot und sich bemühte, die Debatte von formalen und rechtlichen Fragen weg, hin zu Aspekten der demokratischen Praxis zu steuern. Der Diskussionsprozess war sowohl inhaltlich wie auch methodisch breit angelegt, transparent und bot verschiedene Möglichkeiten zur Mitgestaltung (unter anderem einen landesweiten Bürger*innenrat und online-Beteiligungsformate). Das Prozessdesign kann durchaus als umfassend und nachhaltig beurteilt werden. Jedoch gibt Konrath zu bedenken, dass die Medien des Landes diesen Prozess kaum beachteten, was die Bedeutung und Bekanntheit des Projekts in der breiten Bevölkerung schmälerte.
Neben diesen beiden österreichischen Beispielen analysiert Konrath auch Reformprojekte in Finnland sowie in Irland, wobei dort jeweils breit angelegte und langfristige Prozesse angeregt wurden, deren Auswirkungen teils noch nicht absehbar sind. Jedoch wird in den genannten internationalen Beispielen der Diskussionsprozess an sich als wertvoll für die Weiterentwicklung der Demokratie eingeschätzt. Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass „Nachhaltigkeit“ in keinem der Reformprozesse explizit als Zielsetzung definiert wurde, jedoch implizit als Prinzip der demokratischen Praxis anerkannt und mitgedacht wird. Die Sorge um den Zustand der Demokratie und das Vertrauen der Menschen in demokratische Institutionen ist stets Ausgangspunkt solcher Reformprozesse, die eingeschlagenen Wege zur Zielerreichung unterscheiden sich jedoch erheblich.