Die Forderung nach einer Reform der Demokratie war im Jahr 1968 nichts Neues. Nach der Erreichung des Staatsvertrages wurde eine Reformdiskussion laut, die sich vorerst auf den politischen Bereich beschränkte. Kritisiert wurden das Proporzsystem, das „Packeln hinter verschlossenen Türen“ und die zunehmende Handlungsunfähigkeit der Großen Koalition. Gefordert wurde – anfangs v.a. aus den Reihen der ÖVP kommend – mehr „Sachlichkeit in der Politik“ und eine größere Freiheit in der Koalition verbunden mit einem größeren Handlungs- und Entscheidungsspielraum im Parlament.
1966 löste erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik eine Alleinregierung unter ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus die Koalitionsregierung ab, wobei der Wechsel zur Einparteienregierung damals für nicht wenige – so auch für Bruno Kreisky – mit der Furcht vor einer ähnlichen Entwicklung wie in der Ersten Republik und der Angst vor gesellschaftlichen und politischen Unruhen verbunden war. Besonders durch die Verlebendigung des Parlaments, das durch das Wechselspiel von (großer) Opposition und Regierungspartei im Vergleich zu früheren Jahren nun zu einem interessanten politischen Schauplatz geworden war, wurde die Reformdebatte im institutionellen Bereich erneut intensiviert. Gleichzeitig setzte in den späten 1960er Jahren – und das massiv beeinflusst von der internationalen Entwicklung – eine zweite Reformdiskussion ein, die sich ein weiteres Ziel setzte und der sich auch die Politik nicht verschließen konnte: Sie forderte das, was Bruno Kreisky in Österreich mit einer „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ und Willy Brandt in Deutschland mit „Mehr Demokratie wagen“ umschrieb.
„Modernisierung“ als politisches Ziel
Zum politischen Schlagwort, mit dem Wahlkämpfe gewonnen werden konnten, wurde die „Modernisierung“. So gelang es der SPÖ und ihrem Vorsitzenden Bruno Kreisky (seit 1967), v.a. durch die erfolgreiche Inanspruchnahme dieser Modernisierungskompetenz bei den Nationalratswahlen 1970 zu reüssieren.
Gestützt auf die acht in der Oppositionszeit (von den legendären 1400 Expert*innen) ausgearbeiteten „Reformprogramme für ein modernes Österreich“ konnte die SPÖ 1970 die ÖVP als alleinregierende Partei ablösen.
Galt 1966 noch die ÖVP als die Partei der Reformer*innen, wurde diese Kompetenz nun der SPÖ zugesprochen. Der Startschuss zur dreizehnjährigen „Ära Kreisky“ fiel. Ermöglicht und getragen wurde die „Ära Kreisky“ von einer sozialliberalen Wähler*innenkoalition. Bei den Nationalratswahlen 1970 erzielte die SPÖ vorerst jedoch nur die relative Mehrheit, worauf sie mit der Unterstützung der FPÖ eine Minderheitsregierung bildete. Im Gegenzug zu einer Wahlrechtsreform stimmte die FPÖ dem Budget der SPÖ zu. Die Wahlrechtsreform stärkte den Proportionalitätseffekt und schuf für kleinere Parteien (aber auch für die SPÖ, die aufgrund des alten Wahlrechts zwei Mal mehr Stimmen, aber weniger Mandate als die ÖVP erreicht hatte) bessere Bedingungen in der Mandatsverteilung im Parlament. Bei den Nationalratswahlen 1971 (und in Folge auch bei den Wahlen 1975 und 1979) gelang es der SPÖ dann, die absolute Mehrheit zu erreichen. Maßgeblich verantwortlich für den erneuten Wahlsieg 1971 war v.a. der von der Partei 1970 begonnene Reformprozess.