Rechtsreform als Demokratiereform

Das Justizprogramm der SPÖ aus dem Jahr 1969 ist eines der acht „Reformprogramme für ein modernes Österreich“, das die SPÖ in ihrer Oppositionszeit (1966–1970) ausarbeitete.
© Maria Wirth

Rechtsreform als Demokratiereform

In der Reformpolitik der 1970er Jahre nahm die Rechtsreform eine Schlüsselstelle ein. Sie sollte – wie der zuständige Justizminister Christian Broda stets betonte – einen „Nachziehprozess“ an eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit bringen, da die Demokratie gefährdet sei, wenn die gesellschaftliche Entwicklung und die Rechtsordnung zu stark voneinander abweichen. Basis und Motor sollte die Rechtsreform aber auch für die gesellschaftliche Weiterentwicklung sein, wenn dieser Aspekt von Broda öffentlich (d.h. mit Ausnahme der Parteiöffentlichkeit) auch erst nach der Verabschiedung der Gesetze stärker betont wurde.

Zum Arbeitsprogramm für mehrere Legislaturperioden, beinahe für die gesamte „Ära Kreisky“, wurde das Justizprogramm der SPÖ aus dem Jahr 1969. Als eines der in der Opposition ausgearbeiteten acht „Reformprogramme für ein neues Österreich“ hielt es eine Vielzahl notwendiger Reformen fest. Eine besondere Aufmerksamkeit kam hier und in der Politik der kommenden Jahre den längst fälligen Reformen im Bereich des Familien- und Strafrechts zu, die in ihren Grundzügen bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichten und eine beinahe ebenso lange Reformdiskussion aufwiesen.

Konsens- und/oder Konfliktpolitik

Umgesetzt werden konnten Reformen in beiden Bereichen bis Mitte/Ende der 1970er Jahre, wobei es ein erklärtes Ziel von Justizminister Broda war, eine größtmögliche Akzeptanz für die Rechtsreform bereits im Vorfeld der parlamentarischen Beschlussfassung zu erzielen. Gewährleisten sollte diese auch eine Annahme der Gesetze nach deren Beschlussfassung. In der Öffentlichkeit wurde deshalb gezielt für die Rechtsreform geworben und mit den Parteien im Parlament bereits im Vorfeld der Abstimmung ein Konsens über die neuen Gesetze angestrebt. Notwendig erschien Broda dies v.a. aus der Überlegung, dass in gesellschaftlich so sensiblen Bereichen wie dem Familien- und dem Strafrecht, die am grundlegenden Wertekanon einer Gesellschaft rühren, , keine „Reform der 51 zu 49 Prozent“ verabschiedet werden solle.

Rechtsreform als Demokratiereform
© Maria Wirth

 

Gelungen ist eine breite Mehrheitsfindung im Parlament, für die auch das gute Gesprächsklima zwischen Justizminister Broda und den Justizsprechern von ÖVP und FPÖ entscheidend war, in beiden Bereichen mit zwei Ausnahmen: Ein Konsens über das neue Strafgesetzbuch scheiterte an der Fristenlösung, die im Reformprozess erst relativ spät und auf Druck der Frauenbewegungen (in- und außerhalb der SPÖ) Bestandteil des Gesetzesentwurfs wurde. Im Bereich der Familienrechtsreform fand das neue Ehegesetz auf Grund der darin vorgesehenen neuen Scheidungsmöglichkeiten im Falle der Zerrüttung nicht die Zustimmung der ÖVP. Die Konsensbereitschaft der Parteien gelangte somit gerade in jenen Bereichen, die den Moral- und Wertehaushalt einer Gesellschaft bzw. ihrer unterschiedlichen Gruppen berühren, an ihr Ende. In der Abtreibungsfrage führte der Gegensatz zwischen den Parteien, den Frauenbewegungen und der katholischen Kirche bzw. religiösen Gruppierungen sogar zu einem „moralischen Kreuzzug“ gegen die Reform.

Als „Jahrhundertreformen“ haben sowohl die Familien- als auch die Strafrechtsreform und ihre Bestimmungen noch heute Bedeutung. Sie sollten – wie es auch von Seiten des Justizministeriums kommuniziert wurde – zu „Mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft“ beitragen. Vor allem die von Justizminister Broda getragenen Reformen im Rechtsbereich sind – neben Reformen im Universitäts- und Schulbereich – auch dafür verantwortlich, dass von der „Ära Kreisky“ noch heute als einer Reformperiode in der österreichischen Geschichte gesprochen wird. Generell handelte es sich bei den in den 1970er Jahren durchgeführten Neuerungen um systemimmanente Reformen. Eine grundlegende Umkehr (Sozialisierung) der Gesellschaft war nicht angestrebt worden. Die Rechtsreformen wurden in diesem Zusammenhang von Justizminister Broda vielfach auch als „liberales Erbe“, quasi als „Vollendung der Revolution von 1848“, bezeichnet. Der „Übergang vom bürgerlichen zum sozialen Recht“ spielte im Rechtsdiskurs der SPÖ erst rund um das neue Parteiprogramm 1978 eine größere Rolle. Insgesamt kam der Rechtspolitik in den 1970er Jahren eine bis dato unbekannt hohe Aufmerksamkeit zu.