Konzeptionen von Demokratie
Demokratie lässt sich nicht in einer einzigen Theorie fassen. Es gibt vielmehr verschiedene Grundgedanken, Voraussetzungen und Kriterien für eine Demokratie und somit auch eine Vielzahl an unterschiedlichen, teilweise auch widersprüchlichen Zugängen. Darüber hinaus ist Demokratie niemals ein vollendeter Zustand, sondern stets ein offener Prozess, der gesellschaftliche Aushandlung und flexible Weiterentwicklung braucht. Das demokratische System wird zudem durch unterschiedliche endogene wie exogene Herausforderungen beeinflusst: Z.B. durch strukturelle Veränderungen einer Gesellschaft, Wandlungen im gesellschaftlichen Demokratieverständnis (endogen), oder durch Herausforderungen, die sich mit der Internationalisierung und Globalisierung der Welt sowie der fortschreitenden europäischen Integration ergeben (exogen).
Demokratie ist…?
Die bekannteste Demokratiedefinition stammt wohl von Abraham Lincoln aus dem Jahr 1863 (The Gettysburg Address). Er versteht Demokratie als „government of the people, by the people, and for the people”, also als eine Regierungsform, die vom Volk ausgeht, durch und für das Volk ausgeübt wird. Volk wird hier im Sinne von Demos verstanden, d.h. die wahlberechtigten Bürger*innen. Der Demokratietheoretiker Manfred G. Schmidt hat diese viel zitierte Definition dem 21. Jahrhundert angepasst und formuliert Demokratie wie folgt:
„Die Demokratie ist eine Staatsverfassung von Klein- und Flächenstaaten, in der die Herrschaft auf der Basis politischer Freiheit und Gleichheit sowie auf der Grundlage weitreichender politischer Beteiligungsrechte aller Erwachsenen Staatsangehörigen mittel- oder unmittelbar aus dem Staatsvolk hervorgeht, in offenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen erörtert und unter Berufung auf das Interesse der Gesamtheit oder der Mehrheit der Stimmberechtigten ausgeübt wird, und zwar unter dem Damoklesschwert der Abwahl der Regierenden durch das Volk oder dessen Vertreter in regelmäßig stattfindenden allgemeinen, freien, gleichen, fairen Wahlen bzw. in parlamentarischen Abstimmungen über Regierungswechsel“ (Schmidt 2010: 17).
Doch auch diese präzisere Definition lässt zahlreiche Fragen und Probleme offen, die in den unterschiedlichen Demokratiemodellen mehr oder weniger thematisiert werden. Bei der Betrachtung der verschiedenen Demokratieansätze stehen nach dem österreichischen Politikwissenschaftler Herbert Dachs (2008) drei Fragen im Vordergrund:
- Welche Reichweite erhält Demokratie? Ist Demokratie z.B. allein auf das politische System beschränkt, oder beeinflusst es auch weite Bereiche der Gesellschaft, Wirtschaft?
- Wie breit oder eng sind die Partizipationsmöglichkeiten?
- Welcher Modus der Entscheidungsfindung wird vorgezogen?
Enger oder breiter Demokratiebegriff
Die unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen unterscheiden sich von Umfang und Reichweite der Kennzeichen, die als demokratisch verstanden werden. Das Spektrum an Definitionen reicht von „engen“ (minimalistischen) bis „breiten“ (expansionistischen) Demokratiekonzeptionen (vgl. Campbell/Barth 2009). Diese Unterscheidung verweist einerseits auf das Ausmaß an Rechten und Freiheiten für die Bürger*innen, andererseits auf die Frage, ob Demokratie sich allein auf das politische System bezieht oder auch die Gesellschaft und Schnittstellen zur Politik (z.B. Bereich der Bildung, Arbeitswelt) impliziert. Allerdings fällt eine Einteilung nicht eindeutig aus.
Indikatoren für Demokratiequalität
Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Niemand würde mehr die als „Volksdemokratien“ deklarierten politischen Systeme der ehemaligen sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas (z.B. die Deutsche Demokratische Republik) oder die „Demokratische Volksrepublik Korea“ (also Nordkorea) als Demokratien bezeichnen. Aber auch heutzutage kommt die Frage auf, ob eine Demokratie noch demokratisch ist, wenn z.B. Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt sind (z.B. Ungarn). Mithilfe von festgelegten Indikatoren, die eine Demokratie ausmachen, wird der Grad an Demokratisierung einer Staatsverfassung messbar und kann mit anderen Staaten verglichen werden.
Für die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House, die den jährlichen Bericht „Freedom of the World“ veröffentlicht, ist „Freiheit“ der zentrale Indikator von Demokratiequalität. „Freiheit“ wird dabei gleichberechtigt mit Indikatoren für political rights (politischen Rechten) und civil liberties (bürgerlichen Freiheiten) errechnet. Auf einer Skala von 1 bis 7 wird dann bestimmt, inwiefern diese Rechte und Freiheiten vorhanden sind und wie „frei“ diese Länder tatsächlich sind. Umso größer die Freiheit ist, desto mehr Qualität hat die Demokratie (siehe Freedom in the World 2020 Methodology).
Eine Ausweitung des Demokratiekonzepts bietet das Konzept der Polyarchie des Demokratietheoretikers Robert A. Dahl. Dieses wird von Politikwissenschaftler*innen am häufigsten aufgegriffen und angewendet. Demnach machen „public contestation and the right to participate“ (Wettbewerb um politische Ämter und das Recht auf Partizipation) die zwei Schlüsseldimensionen von Demokratie aus (vgl. Dahl 1971). Dahl benennt sieben wesentliche Kriterien für eine moderne Demokratie:
- Wahl und Abwahl der Amtsinhaber*innen
- regelmäßige faire und freie Wahlen
- aktives und passives Wahlrecht für fast alle Erwachsenen
- Rede- und Meinungsfreiheit
- Informationsfreiheit
- Organisations- und Koalitionsfreiheit
- ein „inklusiver Bürgerschaftsstatus“, d.h. politische und bürgerliche Rechte sollen für möglichst alle gelten
Die Politikwissenschaftler David Beetheim und Stuart Meir gehen von den Grundprinzipien „Kontrolle von Entscheidungsprozessen durch das Volk“ sowie „politische Gleichheit“ aus und entwickeln anhand von vier Dimensionen „freie und faire Wahlen“, „offene, rechenschaftspflichtige und responsive Regierung“, „bürgerliche und politische Rechte und Freiheiten“ und eine „demokratische Gesellschaft“ 30 Fragen zur Untersuchung der britischen Demokratiequalität. Die Konkretisierung in Form von Fragen ermöglicht, dass Demokratiequalität messbarer wird (vgl. Campbell/Barth 2009).
Normative und empirische Demokratietheorien
Demokratietheorien können in normative und empirische Lehren unterschieden werden (auch als präskriptive und deskriptive Demokratietheorie bezeichnet). Normative Demokratietheorien formulieren in erster Linie normative Zielvorstellungen und Soll-Zustände von Demokratie. Bei der Betrachtung der normativen Demokratiemodelle fällt auf, dass diese oft einen expansionistischen Demokratiebegriff verwenden und sich für das Ideal einer Ausweitung der demokratischen Rechte bzw. Partizipation einsetzen (z.B. Benjamin Barbers „Starke Demokratie“). Empirische Theorien hingegen beschreiben existierende Demokratien und versuchen aus der erfahrbaren Realität ihre Theorie abzuleiten. Häufig wird hier ein enger Demokratiebegriff verwendet, der für das Prinzip der Repräsentation eintritt (z.B. Repräsentative Demokratie). Giovanni Sartori (1997) weist jedoch darauf hin, dass trotz dieser Trennung ein empirischer Zustand auf normativen Idealen und Werten gründet: „Was Demokratie ist, läßt sich nicht davon trennen, was Demokratie sein sollte“ und Empirie und Norm dementsprechend miteinander verflochten sind (Sartori 1997: 16f.). Somit muss bei der Unterteilung in normative und empirische Theorie beachtet werden, dass diese keine absolute Klassifizierung sein kann: Wenn man von Demokratie spricht, sind somit immer auch normative Vorstellungen mit empirischen Tatsachen verknüpft.