Die politische Parteienlandschaft Österreichs und Verfassungsjurist*innen sind sich einig: Eine Demokratiereform in Österreich ist dringend notwendig. Insbesondere wird ein Ausbau der direkten Demokratie als Antwort gegen Politikverdrossenheit & Co diskutiert. Über Fragen wie ein neues Modell der direkten Demokratie beschaffen sein soll, besteht im Rahmen der parteipolitischen Kontroversen Uneinigkeit. Die wichtigsten Aspekte der Debatte im Überblick.
Demokratiereform: Ausbau der direkten Demokratie
Direkte Demokratie spielt in Österreich gegenüber dem Primat des repräsentativ-parlamentarischen Systems eine untergeordnete Rolle. Die direktdemokratischen Instrumente wurden deshalb schon relativ früh als „dekorativer Verfassungsschmuck“ verurteilt (Poier 2012: 118). Volksabstimmung und Volksbefragung sind grundsätzlich plebiszitären Charakters, können also nur von oben nach unten angeordnet werden. Auch das Volksbegehren ist im internationalen Vergleich in Österreich „ein völlig zahnloses, dringend reformbedürftiges Instrument“ (Karlhofer 2012: 14). Die bereits 1920/1929 diskutierte Verknüpfung von Volkbegehren und Volkabstimmung, in der vom Parlament nicht umgesetzte Volksbegehren einer Volkabstimmung unterzogen werden können, fehlt bisher. Eine derartige Volksgesetzgebung, wie sie mehrere Demokratie-Initiativen fordern, ist mit dem repräsentativ-demokratischen Baugesetz der Bundesverfassung nicht vereinbar. Ein Ausbau der direkten Demokratie könnte somit nur mittels einer obligatorischen Volkabstimmung erfolgen (Poier 2012: 118). Bis vor kurzem wurde ein Schritt in Richtung eines Ausbaus der direkten Demokratie, insbesondere durch eine Aufwertung des Volksbegehrens, noch nicht für möglich gehalten (Poier 2010: 75f.). Im Mai 2012 stand die Ausweitung der direktdemokratischen Instrumente im Nationalrat wieder zur Diskussion und eine Umsetzung zu mehr direkten Mitbestimmungsrechten erschien realistischer denn je (Parlamentskorrespondenz, Nr. 391, 15.05.2012).
Die Debatte über eine Demokratiereform war vor allem durch einen offenen Austausch von Politiker*innen und Parlamentarier*innen mit Expert*innen, Demokratie-Initiativen und der Zivilgesellschaft gekennzeichnet. So lud bereits im Juli 2012 die Untergruppe „Direkte Demokratie“ der parlamentarischen Arbeitsgruppe Parlamentarismusreform Bürger*inneninitativen und Expert*innen zu einer Diskussionsrunde mit den Parlamentarier*innen ein, um gemeinsam Bedenken, juristische Belange und Beispielansätze zu thematisieren (Parlamentarismuskorrespondenz Nr. 497, 15.06.2012/ Die Presse, 03.07.2012).
Aufwertung des Volksbegehrens
Die „größte Schwäche“ des Parlaments sei, so Theo Öhlinger auf dem Symposium „Direkte Demokratie vs. Parlamentarismus“, der Umgang mit erfolgreichen Volksbegehren (Die Presse, 5.11.2012). Die Anzahl von Volksbegehren, die in ein Gesetz übergehen, ist auffällig gering. Von insgesamt 35 Volksbegehren führte bislang nur eine Handvoll zu einem Gesetz. So endete auch das von Hannes Androsch initiierte Volksbegehren „Bildungsinitiative“, das im hohen Maße von Persönlichkeiten, den Medien und der Politik unterstützt wurde, im Nationalrat als „ein Begräbnis erster Klasse“ (Der Standard, 17.06.2012).
Nicht nur die Medien, Demokratie-Initiativen und Expert*innen kritisieren die aktuelle Behandlung von Volksbegehren im Nationalrat, mittlerweile fordern auch Politiker*innen eine Aufwertung des Volksbegehrens. Besonders erfolgreiche Volksbegehren sollen demnach ab einer bestimmten Zahl an Unterstützungserklärungen verpflichtende Volksabstimmungen einleiten können. Politiker*innen, Vertreter*innen von Initiativen und Expert*innen, die sich für diesen Vorschlag einsetzen, ziehen dabei häufig die Schweizer Volksinitiative oder das deutsche Bürger*innenbegehren als Vorbild heran (Siehe Factsheet: Direkte Demokratie im europäischen Vergleich). Darüber hinaus wurde gefordert, das Verfahren von Volksbegehren zu erleichtern, z.B. durch die Möglichkeit seine Stimme über das Internet abzugeben. Derartige Online-Sammelsysteme sind bereits bei der Europäischen Bürgerinitiative möglich und wurde auch für Österreich mit der Gesetzesänderung 2018 umgesetzt.
Wahlreform: Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts
Eine Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts wird von mehreren Parteien, Demokratie-Initiativen und Expert*innen gefordert. Ursprünglich ist in Österreich das Listenwahlrecht, mit dem in erster Linie Parteien gewählt werden, vorherrschend. Persönlich wird in Österreich die*der Bundespräsident*in gewählt. Mit einer Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts und somit Erhöhung der Direktmandate soll eine direkte personale Mitbestimmung durch die Bürger*innen ermöglicht werden.
Modell der dreistufigen Volksgesetzgebung
Die ehemalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer stellte das Modell einer dreistufigen Volksgesetzgebung (auch: dreistufiger Volksentscheid, 3-Stufen-Modell) zur Diskussion, für das sie sich lange Zeit einsetzte (Die Presse, 14.05.2012). Das Modell stammt von der deutschen Demokratie-Initiative „mehr-demokratie.de“ und wird bereits in einigen deutschen Bundesländern eingesetzt. Mehrere Initiativen haben sich bereits für eine Umsetzung des dreistufigen Volksentscheids in Österreich ausgesprochen (insbesondere „Mehr Demokratie Österreich“ sowie „Volksgesetzgebung jetzt!“). Auch der Reformansatz für mehr direkte Demokratie der Grünen knüpfte an das 3-Stufen-Modell für eine Volksgesetzgebung.
3-Stufen-Modell von Mehr Demokratie Österreich
Quelle: Die Presse, 05.03.2012.
- Stufe: Volksinitiative
Die erste Stufe stellt ein Initiativrecht dar, mit dem Bürger*innen mit einer Anzahl von 8.000 Unterschriften einen Gesetzesentwurf dem Nationalrat zur Behandlung vorlegen. Dieser muss die Volksinitiative dann unter den Parlamentsparteien und einigen Initiator*innen diskutieren. Kommt kein Kompromiss zustande, haben die Initiator*innen die Möglichkeit für ihr Anliegen die zweite Stufe eines Volksbegehrens einzuleiten.
- Stufe: Volksbegehren
Bei der zweiten Stufe können die Initiator*innen mit innerhalb von 18 Monaten gesammelten 100.000 Unterstützungsunterschriften einen fertig ausgearbeiteten Gesetzestext oder eine Verfassungsbestimmung dem Parlament vorlegen. Dieser muss dort in einer neuen Verhandlungsrunde diskutiert werden und kann vom Parlament direkt umgesetzt werden. Ansonsten tritt die dritte Stufe ein.
- Stufe: Volksabstimmung
Das Parlament kann dem Volk nun einen Gegenvorschlag präsentieren. Per Volksabstimmung wird dann entschieden, welcher Vorschlag angenommen wird, oder ob es beim Status quo bleibt.
Das Modell der dreistufigen Volksgesetzgebung hat den Vorteil, dass es einen ständigen Austausch zwischen engagierten Bürger*innen und Abgeordneten bewirkt und keine voreiligen Entschlüsse mit sich zieht. Das Ziel ist es, so die Initiative Mehr Demokratie, im dreistufigen Prozess letztendlich zu „tragfähigen Lösungen und ausgereiften Entscheidungen“ zu kommen (Mehr Demokratie, 07.03.2012).
Einwände und Vorschläge der Expert*innen
Auf der Ebene der Verfassungsexpert*innen wird der Ausbau direktdemokratischer Elemente zwar größtenteils begrüßt, doch werden die in der Politik diskutierten Ansätze mit Skepsis betrachtet (Der Standard, 22.12.2011/ Die Presse, 12.05.2012). Die Expert*innen erheben vor allem Einwände gegen den von den Parteien geforderten Automatismus, der Volksbegehren ab einer bestimmten Zustimmung automatisch in Volksabstimmungen münden lässt. Verfassungsjurist Theo Öhlinger erinnert an ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), das besagt, dass keine Gesetzgebung am Parlament vorbei erzwungen werden dürfe, da dies dem Prinzip der repräsentativen Demokratie widerspreche (VfGH, 28.06.2001). Eine derartige Änderung bedarf somit einer Verfassungsänderung und daher auch einer obligatorischen Volksabstimmung.
Die Expert*innen weisen zudem auf die Schwierigkeiten hin, die eine verbindliche Volksabstimmung mit sich bringen würde: Welche Auswirkungen würde die Ausweitung direktdemokratischer Elemente z.B. auf bestehende Verfassungen oder Gesetze haben, die internationalen Verpflichtungen unterlegen? Nach Öhlinger sollten deshalb derartige Gesetze von Volksabstimmungen ausgenommen sein (Der Standard, 30.05.2012).
Direkte Demokratie und Parlamentarismus
Insbesondere das Verhältnis von repräsentativer Demokratie und direkter Demokratie wird von den Verfassungsjurist*innen und Politikwissenschafter*innen diskutiert. So warnt Verfassungsjurist Karl Korinek vor einem Machtverlust des Parlaments und fordert einen direktdemokratischen Ansatz, der die Rolle des Parlaments als letzte Entscheidungsinstanz bei der Willensbildung billigt (Die Presse, 03.06.2012). Der Stellenwert der repräsentativen Demokratie und die Bedeutung des Parlaments werden von mehreren Verfassungsjurist*innen betont. Die repräsentative Demokratie sei, so Öhlinger, „keine defizitäre Variante der Demokratie“, sondern eine „unverzichtbare Form der Volksherrschaft in einem Rechtsstaat“. Direkte Demokratie könne allein nicht der gesellschaftlichen Vielfalt gerecht werden, da Kompromisse bei bloßen Ja/Nein-Entscheidungen nicht ermöglicht werden (Der Standard, 05.11.2012). Die Diskussion über Gesetzesvorschläge soll nach Meinung der Verfassungsexpert*innen folglich weiterhin im Parlament stattfinden.
Direkte Demokratie als ergänzendes Korrektiv
Eine Mehrheit der Expert*innen befürwortet direkte Demokratie als ergänzendes Korrektiv zur repräsentativen Demokratie. Es ist aber wichtig, so Politikwissenschafter und Verfassungsrechtler Klaus Poier, dass die direktdemokratischen Instrumente nicht nur von den „Herrschenden“ (also der Parlamentsmehrheit), sondern auch von den „Beherrschten“ eingesetzt werden können. So sollte bei Volksabstimmungen auch ein „Vetoreferendum“ für Bürger*innen gegen ein beschlossenes Gesetz diskutiert werden (Kurier, 06.11.2012). Dies wurde unter anderem auch von Demokratie-Initiativen wie „MeinOE“ und einigen Grünen (darunter Daniela Musiol, Wolfgang Pirklhuber) gefordert (Parlament, Entschließungsantrag, 12.10.2011). Auch fordern die Expert*innen einen besseren Umgang mit Volksbegehren. Öhlinger empfiehlt zum Beispiel bei Volksbegehren, die nicht vom Parlament umgesetzt wurden, eine Volksbefragung, statt Volksabstimmung, einzuleiten. Diese wäre einerseits nicht rechtlich bindend und gäbe dem Parlament genügend Raum, noch selbst Einzelheiten festzulegen, gleichzeitig übe sie aber genügend Handlungsdruck auf die Politik aus (Die Presse, 05.11.2012). Des Weiteren wurde von mehreren Seiten eine Wahlrechtsreform und Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts gefordert, für das sich neben mehreren Demokratieinitiativen (meinOE, Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform) auch prominente Verfassungsrechtler wie der Präsident des Verfassungsgerichtshof, Gerhart Holzinger, aussprachen (Der Standard, 12.05.2012).
Erste Schritte zu einer Demokratiereform
Am 19. Dezember 2012 hat sich die Regierung auf ein gemeinsames Demokratiepaket geeinigt. Zum Thema Volksbegehren sah das Paket vor, dass das Sammeln von Unterstützungsunterschriften auch online ermöglicht und somit erleichtert werden soll. Eine parlamentarische Behandlung der jeweiligen Thematik soll dann im Rahmen einer Sondersitzung des Nationalrats erfolgen. Darüber hinaus wurde die Einführung einer zentralen Wählerevidenz beschlossen, die im Rahmen von Wahlen, Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen zum Einsatz kommt. Ein Automatismus, der nach einem Volksbegehren mit mindestens 700.000 Unterschriften eine Volksabstimmung einleitet, wurde hingegen nicht umgesetzt.
Die Einführung von „Bürgeranfragen“ hingegen, eine Idee der ÖVP, wurde umgesetzt. Demnach können Bürger*innen auf elektronischem Weg Anfragen an die Regierungsmitglieder stellen, die ab 10.000 online-Unterstützungserklärungen in einer Fragestunde im Nationalrat behandelt werden, wobei vier solcher Fragestunden pro Jahr geplant sind. Des Weiteren ermöglichte das Demokratiepaket eine Aufwertung des Persönlichkeitswahlrechts. Folglich können Bürger*innen nun auch im Rahmen von Nationalratswahlen Vorzugsstimmen vergeben. Zusätzlich wurde auf Landes- und Regionalebene die Zahl notwendiger Vorzugsstimmen herabgesetzt (Der Kurier, 17.11.2012/ Die Presse, 19.11.2012/ Der Standard, 19.12.2012).
Der Ausgang der Debatte
Obwohl das Demokratiepaket schon 2012 beschlossen wurde, scheiterten einige Punkte entweder an bürokratischen oder an rechtliche Hürden. Der Vorschlag der Zentralen Wählerevidenz war bis zum 1. Jänner 2014 kaum umsetzbar, weswegen mehr Zeit zur Entwicklung gefordert wurde. Auch die verpflichtende Volksabstimmung nach einem erfolgreichen Volksbegehren traf auf viel Gegenwind, wodurch es sich die Oppositionsparteien zumindest auf eine verpflichtende Bürgerbefragung einigen wollten. Mit der Nationalratswahl 2013 ging auch der Fokus auf das Demokratiepaket verloren. Bis auf eine Erweiterung des Vorzugsstimmensystems konnten die anderen Punkte erst durch spätere Demokratiepakete aufgegriffen werden.