Sinkende Wahlbeteiligung, Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und ihre Entscheidungsträger*innen sowie Politikmüdigkeit beschreiben den derzeitigen Zustand der repräsentativen Demokratie. Stattdessen wird immer häufiger ein Ausbau direkter Demokratie als Antwort auf den krisenhaften Zustand westlicher Demokratien diskutiert. Aktuelle Studien bestätigen den Trend auch für Österreich.
Krisendiagnosen westlicher Demokratien
Es wird in der öffentlichen Debatte immer häufiger von einer „Krise der Demokratie“ gesprochen. Colin Crouchs polemischer Begriff der „Postdemokratie“ entspricht dieser Krisenrhetorik. Laut dem britischen Politikwissenschafter existieren die repräsentativen Institutionen nur noch als eine Art „leere Hülle“. Politik wird stattdessen von einer kleinen privilegierten Elite gelenkt, während die Mehrheit der Bürger*innen lediglich eine „passive, schweigende ja sogar apathische Rolle“ spielt (Crouch 2008: 10).
Die von Crouch zugespitzten Krisendiagnosen der westlichen Demokratien sind auch Gegenstand anderer wissenschaftlicher Arbeiten (Vgl. Linden 2011). Da wäre zum einen das Problem der abnehmenden politischen Relevanz und Legitimität von Demokratie. Im Kontext von Globalisierung und Europäisierung werden politische Entscheidungen zunehmend von wirtschaftlichen Akteur*innen oder supranationalen Organisationen beeinflusst. Gleichzeitig werden Demokratien mit den mächtiger werdenden Massenmedien konfrontiert, die mehr und mehr die Politik bestimmen. Auch die europäische Integration hat die Komplexität politischer Entscheidungskompetenzen verstärkt. Politische Entscheidungen werden nicht mehr nur von den im nationalstaatlichen Rahmen gewählten und kontrollierten Repräsentant*innen getroffen, sondern auch von externen Akteur*innen, über die die Wähler*innen keine Kontrolle mehr haben. Dadurch ist die Legitimation der Repräsentant*innen gegenüber den Repräsentierten nicht mehr im gleichen Ausmaß gegeben. Dieser Souveränitäts- und Legitimationsverlust führt folglich zu einem schwindenden Vertrauen in die politischen Institutionen und Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Dies zeigt sich nicht nur im Rückgang der Wahlbeteiligung, sondern in einem allgemeinen Mangel an konventioneller politischer Partizipation, die sich auch am Desinteresse der Bürger*innen für eine Karriere im öffentlichen Dienst oder Mitgliedschaft in den Parteien ausdrückt.
Colin Crouchs Begriff der Postdemokratie unterschätzt nach dem Politikwissenschafter Wolfgang Merkel allerdings die Reform- und Anpassungsfähigkeit der Demokratie, die sich als offenen Prozess versteht und daher ständig neuen Herausforderungen unterworfen ist (Merkel 2011: 19). Die repräsentative Demokratie hat eben nicht ihr Ende erreicht, sondern befindet sich stattdessen in einem Formwandel, der sich unter anderem durch geänderte Rahmenbedingungen wie der Verflechtung nationaler und europäischen Ebenen, der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche und den rasanten Entwicklungen im IT-Sektor (z.B. Web 2.0) ausdrückt. Insbesondere durch die Zunahme von Onlineplattformen und Social Media (z.B. Facebook, Twitter) hat sich der Charakter sozialer Bewegungen verändert und es wurden neue Möglichkeiten politischer Partizipation geschaffen (Liebhart 2011: 91f). Insgesamt haben unkonventionelle Beteiligungsformen von Bürger*innen wie Bürgerinitiativen und Proteste durchaus zugenommen. Doch sind diese Formen gesellschaftlicher Aktivität oft hochgradig selektiv und werden von den besser Ausgebildeten dominiert (Jörke 2011: 15f.). Es sind vor allem die niedrigeren sozialen Schichten, die sich zunehmend aus der demokratischen Beteiligung zurückziehen und von der repräsentativen Demokratie enttäuscht fühlen.
Direkte Demokratie als Antwort
Die repräsentative Demokratie bedarf folglich Reformansätze, die auf die neuen Herausforderungen reagieren. Direktdemokratische Instrumente, mit denen Bürger*innen direkte politische Entscheidungen treffen können, erscheinen folglich in vielen europäischen Ländern als ein von der breiten Bevölkerung gewünschtes und ernstzunehmendes Korrektiv. Direkte Demokratie mache laut den Experten Andreas Gross und Bruno Kaufmann Politik kommunikativer, zwinge zur öffentlichen Auseinandersetzung mit Argumenten, verschaffe Minderheiten im Parlament das Recht, sich öffentlich Gehör zu schaffen und ermögliche eine feinere Verteilung von politischer Macht (IRI Europe Länderindex 2002: 4). Darüber hinaus erhofft man sich von mehr direkten Mitspracherechten insbesondere ein wieder gesteigertes Interesse an Politik und politischer Teilhabe.
Über den Zustand der österreichischen Demokratie
Es gibt zahlreiche Studien und Umfragen über die Einstellungen der Österreicher*innen zur repräsentativen Demokratie, deren Institutionen und insbesondere dem Ausbau direkter Demokratie. Sie reichen von Umfragen, die von Medien in Auftrag gegebenen wurden, bis hin zu von Politiker*innen oder wissenschaftlichen Instituten organisierten repräsentativen Studien. Sie zeigen, dass die oben genannten Krisenphänomene wie Politikmüdigkeit und schwindendes Vertrauen in die repräsentativen Institutionen auch für die österreichische Demokratie gelten. Gleichzeitig wird auch hier der Wunsch der Bürger*innen nach einem Ausbau direkter Demokratie bestätigt.
Eine dieser Studien handelt über „Direkte Demokratie in Österreich“ und stammt von der Arbeitsgruppe „International Vergleichende Sozialforschung“ (IVS) am Institut für Soziologie der Universität Graz. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Empirische Sozialforschung (IFES) in Wien wurden im Zeitraum August bis September 2012 rund 2.000 Personen ab 15 Jahren in Face-to-face-Interviews zu politischen Einstellungen befragt. Die repräsentative Studie führte zu den Ergebnissen, die schon bereits in anderen Umfragen festgestellt wurden (Alle Studien/Umfragen sind in der rechten Spalte aufgelistet). Die von Dr. Max Haller (IVS) in Auftrag gegebene Studie wurde unabhängig von irgendwelchen Geldgeber*innen oder politischen Institutionen durchgeführt. Laut dem Projektleiter Dr. Gert Feistritzer (IFES) gab es die damalig letzte vergleichbare Studie im Jahr 2004 (Parlamentarismusstudie). Derzeit gibt es keine vergleichbare neuere Studie, welche sich mit dem Thema der Direkten Demokratie in Österreich und dem Wunsch der Bürger*innen nach ihr befasst. Dies deutet darauf hin, dass sich die öffentliche Debatte und politische Relevanz des Themas seither wieder abgeschwächt haben.
Interesse an Politik
Das Politikinteresse der Österreicher*innen befand sich 2012 im Gegensatz zu 2004 laut den Autoren*Autorinnen der Studie von IFES/IVS auf „dramatisch niedrigem“ Niveau. Dies gilt insbesondere für die unter 30-Jährigen, von der die Hälfte angab, sich nicht um Politik zu kümmern. Ein weiterer Unterscheidungsfaktor für das politische Interesse ist der formale Bildungsabschluss. So gaben über die Hälfte der Gruppe mit Pflichtschulabschluss ohne Ausbildung an, dass sie sich so gut wie gar nicht um Politik kümmern. Insgesamt bezeichneten sich nur 19 Prozent der befragten Österreicher*innen als politisch interessiert, 48 Prozent hielten sich nur ungefähr auf dem Laufenden und 33 Prozent galten als politisch desinteressiert.
Frage: Wie ist Ihre Einstellung zur Politik? Kümmern Sie sich so gut wie
gar nicht darum, halten Sie sich nur ungefähr auf dem Laufenden oder
sind Sie politisch interessiert? (in Prozent)
Vertrauen in die politischen Institutionen
Die Politikmüdigkeit der Bürger*innen hängt unmittelbar mit einer zunehmenden Unzufriedenheit innerhalb der österreichischen Bevölkerung mit dem demokratischen System und deren Repräsentant*innen zusammen. So war 2012 nur noch die Hälfte der österreichischen Bevölkerung mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Auch auf der Personenebene waren nur drei von zehn Österreicher*innen mit den Volksvertreter*innen zufrieden.
Frage: Sind Sie mit dem Funktionieren unserer Demokratie alles in allem…? (in Prozent)
Frage: Und wie zufreiden sind Sie damit, wie unsere gewählten Volksvertreter die Interessen der Bevölkerung vertreten? (in Prozent)
Image des Nationalrates
Auch das Image des Österreichischen Nationalrates hat stark nachgelassen. 43 Prozent beurteilten die Arbeit des Nationalrates als „eher schlecht“ und nur noch ein Drittel der befragten Bürger*innen war damit zufrieden, wie die gewählten Repräsentant*innen ihre Interessen vertreten. Insgesamt war mit 55 Prozent nur noch eine knappe Mehrheit der Österreicher*innen mit dem Funktionieren der Demokratie als Ganzes zufrieden. Laut den Studienbuchautoren gehörten die Anhänger*innen der FPÖ zu den Unzufriedensten. Hier waren nur noch 33 Prozent mit dem demokratischen System insgesamt zufrieden.
Frage: Haben Sie alles in allem gesehen von der Arbeit des Österreichischen Nationalrates eher einen guten oder eher einen schlechten Eindruck? (in Prozent)
Ergänzende Studien: Vertrauensverlust
Das Demokratiemonitoring der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft (SWS), ein wissenschaftliches Messinstrument, das darauf abzielt, Prozesse und Entwicklungen im Bereich Demokratie und politischer Partizipation aufzuzeigen, hatte bereits Anfang 2012 erste Ergebnisse zum schwindenden Vertrauen der Bürger*innen gegenüber den verschiedenen Institutionen präsentiert. Während öffentliche Institutionen wie das Gericht und die Polizei noch Vertrauen in der Bevölkerung genießen, ist das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber Politiker*innen äußerst gering (SWS Demokratiemonitoring 2012).
Der Demokratiebefund 2020 zeigt auf, dass sich das Vertrauen der Leute zu den Politiker*innen fast kontinuierlich verschlechtert. 2018 schienen die Umfragewerte besser auszufallen.
Einstellungen zum Ausbau direkter Demokratie
Gegen diese „höchst problematische Entwicklung“ könnte laut den Studienautor*innen (IVS/IFES) ein Ausbau der direkten Demokratie helfen. Darüber bestand 2012 ein breiter Konsens in der Bevölkerung. Fast 80 Prozent der Bürger*innen waren für den Ausbau direkter Demokratie (31 Prozent waren „sehr dafür“, 48 Prozent „eher schon dafür“). Auffallend ist hier, dass nicht nur die an der Politik Interessierten, sondern auch diejenigen, die der Politik bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet haben oder mit dem demokratischen System unzufrieden waren, sich für mehr Mitentscheidungsoptionen aussprachen. Insbesondere die damaligen Anhänger*innen von FPÖ und BZÖ, die laut der Studie die „Unzufriedensten“ waren, befürworteten eine Stärkung der direkten Demokratie (IFES/IVS 2012: 18). Mehr Mitentscheidungsoptionen könnten, so die Studienbuchautor*innen, dazu beitragen, auch die Gruppen stärker für Politik einzunehmen, die bisher desinteressiert bzw. unzufrieden mit dem politischen System waren.
Frage: Es wird darüber diskutiert, die direkte Demokratie in Österreich auszubauen.
Wie stehen Sie grundsätzlich dazu, dass das Volk mehr mitentscheiden kann –
sind Sie da… ? (in Prozent)
Von den bestehenden direktdemokratischen Instrumenten wurde die verbindliche Volksabstimmung (Volksentscheidung) von den Befragten als die beste Möglichkeit der Mitbestimmung betrachtet. Aber auch Volksbegehren und Volksbefragungen wurden als „echte Gelegenheit zur Mitentscheidung“ gesehen. Hoch wäre auch die Bereitschaft, sich an den Formen der direkten Demokratie zu beteiligen. Knapp die Hälfte der Befragten, würde an einer Volksabstimmung teilnehmen; bei Volksbegehren und Volksbefragungen würden sich 39 Prozent der Bevölkerung beteiligen. Besonders hoch war auch der Anteil derer, die zumindest bei relevanten Themen an der politischen Willensbildung mitmischen würden. Es gab aber auch Themen, zu denen es nach der Meinung der Befragten keine Volksabstimmungen geben sollte. Hierbei handelt es sich um Themen, die gegen die Menschenrechte verstoßen würden, z.B. die Einführung der Todesstrafe.
Frage: Wenn es mehr direkte Demokratie in Österreich geben würde, würden Sie sich
daran beteiligen? (in Prozent)
Vorbild Schweizer Modell
Auch in Österreich stellt die Schweiz ein Vorbild in Sachen direkter Demokratie dar. Das Schweizer Modell einer von Bürger*innen eingeleiteten Volksabstimmung, die bei einer Zustimmung automatisch zu einem Gesetz führt, traf bei den Befragten auf große Zustimmung (25 Prozent waren „sehr dafür“, 47 Prozent „eher schon dafür“).
Frage: In der Schweiz haben Bürger*innen die Möglichkeit, selbst eine
Volksabstimmung einzuleiten, die bei einer mehrheitlichen Befürwortung
automatisch zu einem Gesetz wird. Wie sehr wären Sie dafür oder dagegen,
diese Möglichkeit auch in Österreich einzuführen? (in Prozent)
Wer profitiert von direkter Demokratie?
Vorteile von mehr direkter Demokratie würden in den Augen der befragten Bürger*innen vor allem den mittleren und ärmeren sozialen Schichten, die österreichische Bevölkerung insgesamt und teilweise den Oppositionsparteien bringen. Etwa ein Viertel der Befragten waren überzeugt, dass ein Ausbau direkter Demokratie das Interesse der Bevölkerung an Politik erhöhen (76 Prozent) und die Zufriedenheit am politischen System steigern würde (71 Prozent).
Frage: Welche der folgenden Gruppen würde Ihrer Einschätzung nach von mehr
direkter Demokratie einen Vorteil oder einen Nachteil haben? (in Prozent)
Vor- und Nachteile von mehr direkter Demokratie
Die Studie von IVS und IFES belegte 2012, dass ein Ausbau der direkten Demokratie auf einen breiten Konsens in der Bevölkerung treffen würde. Die Bevölkerung war sich nicht nur über die Vorteile von direkter Demokratie bewusst. Die Studie zeigte darüber hinaus, dass die Bürger*innen durchaus in der Lage sind, auch Nachteile und Gefahren von direkter Demokratie abzuschätzen (IFES/IVS 2012: 27-29).