Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957 hat sich die Gestalt des vereinten Europa stark verändert. Aus der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von sechs Mitgliedsstaaten ist die Europäische Union (EU) mit mittlerweile 27 Mitgliedern geworden. Während sich die Gemeinschaft anfänglich vor allem auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit konzentrierte, ist sie inzwischen auch zu einer politischen Union geworden. Zudem gibt es in der heutigen Europäischen Union gleich mehrere „Europas“: Die EU, zu der alle 27 Mitgliedsländer gehören, den Euroraum, an dem nur 19 Staaten beteiligt sind, oder etwa den Raum des Schengener Abkommens, zu dem 26 Staaten gehören. Zu Schengen gehören auch die Nicht-EU-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz, nicht aber die (neuen) Mitgliedsstaaten Bulgarien, Irland, Kroatien, Rumänien und Zypern (auch Großbritannien war vor seinem Austritt aus der Union nicht Teil des Schengenraums).
Seit den negativen Volksabstimmungen über den „Vertrag über eine Europäische Verfassung“ (in Frankreich und den Niederlanden) sowie der ursprünglichen irischen Ablehnung des Lissabonner Vertrags wird immer häufiger eine Krise des europäischen Integrationsprojektes konstatiert. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Frage nach zukünftigen Erweiterungen kontrovers diskutiert. Skeptiker*innen einer neuerlichen EU-Erweiterung vertreten die Auffassung, dass erst eine „Vertiefung“ der EU angestrebt werden müsse, bevor sie neue Beitrittskandidaten zulassen könne.
Erreichter Integrationsstand und neue Beitrittskandidaten
Seit ihrer Gründung ist die Gemeinschaft der europäischen Staaten, die 1992/92 zur Europäischen Union wurde, stetig gewachsen. Gleichzeitig hat sie sich immer mehr „vertieft“, d.h. ihre Zusammenarbeit weiter ausgebaut und neue Politikfelder erschlossen. Angesichts der mittlerweile auf 27 Staaten angewachsenen Union fürchten viele, der innere Integrationsstand – also die stabile und effektive Zusammenarbeit in der Gemeinschaft – sei gefährdet. Die Aufnahme neuer Staaten würde diesbezüglich einen Rückschritt bedeuten.
Von Seiten offizieller EU-Repräsentant*innen wird dagegen häufig betont, Erweiterung und Vertiefung gehörten zusammen. Der damals zuständige Kommissar für die EU-Erweiterung, der Finne Olli Rehn, erklärte 2007: „Vertiefung und Erweiterung sind keineswegs Widersprüche, sondern sich ergänzende Prozesse. Es ist ihre Verbindung, die die EU hat wachsen lassen und unsere wirtschaftliche und politische Rolle in der Welt gestärkt hat.“ Damit wird eine Doppelstrategie aus Erweiterung und Vertiefung befürwortet, bei der wachsende Integration und schrittweise Vertiefung zusammengehören.
Nach der erstmaligen Ablehnung des Lissabonner Vertrags durch die irische Bevölkerung herrschte zwischen dem damaligen Parlamentspräsidenten Hans-Gert Pöttering sowie dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy ein Konsens über einen vorläufigen Stopp der EU-Erweiterungen. Stattdessen wurde eine Vertiefung der Integration bzw. die Ausweitung von EU-Kompetenzen gewünscht. Es gab jedoch auch eine gegenläufige Position, die eine weitere Vertiefung ablehnte und der Ansicht war, dass EU-Erweiterungen der zunehmenden Vertiefung entgegenwirken könnten. Vor allem Großbritannien sprach sich für ein solches intergouvernementales Europakonzept aus, bei dem eine lockere Zusammenarbeit innerhalb Europas angestrebt wird und zwischenstaatlichen Entscheidungen stärkeres Gewicht zukommt. Nachdem die irische Bevölkerung in einem zweiten Referendum schließlich dem Lissabonner Vertrag zustimmte, war der Weg für EU-Erweiterungen wieder frei. So trat Kroatien als bisher letztes Mitglied 2013 der Union bei.
(Last update: 10/2021)
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Weißbuch
ÖGfE: Policy-Briefs
- Fröhlich, Helgard (2016): Die EU nach dem britischen Referendum. Reform oder weitere Desintegration?
- Pausch, Markus (2014): Keine Angst vor Europaskeptizismus! Über die Spielarten und Nützlichkeit von EU-Kritik.
- Pausch, Markus (2016): Die Folgen und Risiken einer Renationalisierung Europas.
- Schmale, Wolfgang (2016): Um die EU aus der Krise zu führen, braucht es eine Reform des EU-Vertrages.