1989 – Jahr der Umbrüche

Nachdem der Staatsozialismus 40 Jahre lang Politik und Gesellschaft in Osteuropa bestimmt hatte, fiel das System der sowjetischen Satellitenstaaten 1989 in sich zusammen. Bei den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen kamen Reformansätze der herrschenden Regierungen und demokratische Forderungen der oppositionellen Protestbewegungen zusammen. Beides, sowohl die Reform „von oben“ als auch die Revolution „von unten“, prägte die Transformationsprozesse des Jahres 1989. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat sie daher als „Refolutionen“ bezeichnet.

Obwohl die Verbindung von Reform und Revolution ein allgemeines Kennzeichen des Umbruchs war, verliefen die einzelnen „Refolutionen“ in jedem Land unterschiedlich. Anders als es der gängigen Sichtweise des Westens entsprach, handelte es sich beim sogenannten „Ostblock“ um eine Gruppe ganz unterschiedlicher Staaten. Sie blickten auf verschiedene historische Entwicklungen und Traditionen zurück und unterschieden sich in ihrer gesellschaftlichen Struktur. Wenn es die Redeweise vom „Ostblock“ auch anders nahelegte: Einen homogenen Block bildeten die sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa nicht.

Eine wichtige Voraussetzung für den Wandel in Mittel- und Osteuropa bildete seit 1985 die Politik des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow. Um die Krise der kommunistischen Planwirtschaft zu bewältigen, wagte er unter den Schlagworten „Glasnost und Perestroika“ (Transparenz und Umgestaltung) politische Reformen. In ihrer Außenpolitik ging die Sowjetunion von der Breschnew-Doktrin ab, die seit 1968 als bindend gegolten hatte. Die nach dem früheren Staats- und Parteichef Leonid Breschnew benannte Doktrin gründete auf der These von der „beschränkten Souveränität“ der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes. Wenn aus sowjetischer Sicht in einem der Staaten der Sozialismus gefährdet war, konnte die Sowjetunion militärisch einschreiten. Die Breschnew-Doktrin war Ende 1968 formuliert worden und sollte die blutige Niederschlagung des „Prager Frühlings“ nachträglich legitimieren. Gorbatschow schlug in seiner Politik ab Mitte der 1980er Jahre einen anderen Kurs ein und sprach in diesem Zusammenhang auch vom „gemeinsamen Haus Europa“.

Zusammen mit den Protestbewegungen der Bevölkerung trieb der durch Michail Gorbatschow eingeleitete politische und gesellschaftliche Umbau die Veränderungen im Osten Europas voran. Die Krise des Staatssozialismus, die sich in steigenden Preisen und der nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaft manifestierte, vor allem aber auch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten und die fehlenden Grundrechte mobilisierten die Oppositionsbewegungen. Ihr Protest brach Ende der 1980er Jahre in Mittel- und Osteuropa auf, hatte aber oft schon viele Jahre zuvor seinen Ursprung genommen. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, der ungarische Freiheitskampf von 1956 und die blutige Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 gehören zu dieser Vorgeschichte. Anlässlich der militärisch unterdrückten Reformbewegungen in Osteuropa wurde immer wieder eine gesamteuropäische Verbundenheit erkennbar. Die westeuropäischen Staaten zeigten sich mit den Protestbewegungen solidarisch. 1956 etwa nahm Österreich ungarische Flüchtlinge auf.

Polen

Früher als in anderen Ländern bildete sich in Polen eine Oppositionsbewegung heraus, welche die Massen mobilisierte. Moralische Unterstützung erfuhr sie durch den Krakauer Kardinal Karol Wojtyla, der 1978 zum Papst gewählt worden war. Ein Jahr später besuchte er seine polnische Heimat.

Im Sommer 1980 – und damit fast zehn Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs – kam es in Polen infolge stark gestiegener Fleischpreise zu Protesten und Streiks. Arbeiter und Arbeiterinnen der Danziger Werften gründeten daraufhin die inoffizielle Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität). In kurzer Zeit schlossen sich etwa zehn Millionen Menschen der Bewegung unter dem Elektriker Lech Walesa an. Während die polnische Regierung zunächst dem Druck nachgegeben und die Bildung freier und unabhängiger Gewerkschaften zugelassen hatte, holte sie bald zum Gegenschlag aus. Das kommunistische Regime sah sich dem wachsenden Ansturm der Opposition nicht mehr gewachsen und verhängte nur ein Jahr später, am 13. Dezember 1981, das Kriegsrecht. Streiks wurden verboten, die Solidarnosc in die Illegalität gedrängt und Walesa sowie 6.000 weitere Oppositionelle verhaftet. International wurden die Ereignisse in Polen aufmerksam verfolgt. 1983 erhielt Walesa in Abwesenheit den Friedensnobelpreis.

Die schlechte Wirtschaftssituation, welche 1980 zur Gründung der Solidarnosc geführt hatte, besserte sich auch in den folgenden Jahren nicht merklich. 1987/88 kam es erneut zu einer Streikwelle in Polen, nachdem die Preise weiter gestiegen waren. Unter dem Druck der neuerlichen Proteste wurde die Solidarnosc wieder zugelassen. Im April 1989 kam es zu einem ersten offiziellen Treffen zwischen der polnischen Regierung und der Solidarnosc. Der Runde Tisch, an dem die Gespräche stattfanden, ist zu einem Symbol für den demokratischen Wandel in Polen geworden. Er steht heute im Präsidentenpalast.

In den Parlamentswahlen des Jahres 1989 siegte die Opposition. Zwar waren einige Sitze schon vor den Wahlen an die Machthabenden verteilt worden, doch die Wahlen für den Senat waren tatsächlich frei. Mit dem katholischen Juristen und Publizisten Tadeusz Mazowiecki wurde zum ersten Mal nach vierzig Jahren ein nichtkommunistischer Politiker Regierungschef eines osteuropäischen Landes. Am 9. Dezember 1990 wählten die Polen und Polinnen Lech Walesa zu ihrem Staatspräsidenten.

Österreich und Ungarn

Dem niedergeschlagenen ungarischen Volksaufstand folgte nach 1956 eine scharfe Verfolgungspolitik. 1958 wurde der Reformkommunist und vormalige Ministerpräsident Imre Nagy, die Symbolfigur der ungarischen Revolution, nach einem Geheimprozess hingerichtet.

In den folgenden Jahren setzte jedoch ein Kurs der teilweisen Liberalisierung und der gesellschaftlichen Öffnung ein. Seit den 1970er Jahren besserte sich außerdem die wirtschaftliche und soziale Lage („Gulaschkommunismus“). Doch Ende der 1980er Jahre war auch in Ungarn die wirtschaftliche Krise des Staatssozialismus nicht zu übersehen. Die ungarische Regierung reagierte mit einer weiteren Öffnung, sowohl in innen- als auch in außenpolitischer Hinsicht. Anfang des Jahres 1989 erließ sie ein Gesetz, das die Bildung von Parteien erlaubte: Auf diese Weise waren in Ungarn die Grundlagen für ein Mehrparteiensystem geschaffen. Bereits 1988 hatte János Kádár, der für die politischen Verfolgungswellen nach 1956 stand, als Parteichef abgedankt.

Eiserner Vorhang bei Klingenbach
Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn durchschneiden den Stacheldrahtzaun an der österreichisch-ungarischen Grenze.
© Robert Newald 1989

Am 2. Mai desselben Jahres begann der Staat mit dem Abbau der Grenzsperranlagen nach Österreich. Knapp zwei Monate später, am 27. Juni 1989, durchschnitten der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Kollege Gyula Horn in einer symbolträchtigen Inszenierung den Stacheldraht am Grenzübergang Klingenbach. Zahlreiche Medienvertreter waren anwesend, und die Bilder der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ gingen um die Welt. Besonders auf weite Teile der DDR-Bevölkerung hatten die Bilder eine große Signalwirkung.

Am 11. September öffnete Ungarn endgültig alle Grenzen nach Österreich und erlaubte den DDR-Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise über Österreich. Mit Hilfe eines improvisierten Tricks bei der Visumvergabe ermöglichte Österreich den DDR-Flüchtlingen die Ausreise nach Westdeutschland. Zwischen 40.000 und 50.000 Ostdeutsche wurden mit Bussen zur deutschen Grenze nach Passau oder Freilassung gebracht. Schon am 19. August hatten im Rahmen einer Friedensdemonstration an der österreichisch-ungarischen Grenze – dem Paneuropäischen Picknick bei Sopron – mehr als 600 DDR-Bürger und Bürgerinnen in den Westen fliehen können.

Im Zuge der politischen Reformen kam es auch zu einer historischen Aufarbeitung der Ereignisse von 1956 und zu einer Rehabilitierung damaliger Oppositioneller. Dreißig Jahre nach seiner Hinrichtung wurde Imre Nagy in einer feierlichen Zeremonie beigesetzt. Hunderttausende Ungarn und Ungarinnen nahmen an dieser Gedenkfeier für Nagy teil, im Fernsehen wurde die Beisetzung für Millionen übertragen.

Deutschland

Unter den Ereignissen des Jahres 1989 ist der Fall der Berliner Mauer wohl dasjenige mit der größten Symbolkraft. Seit 1961 hatte eine fest bewachte Grenze Deutschland und die Stadt Berlin geteilt. Hunderte Menschen wurden bei dem Versuch, über die Grenze zu flüchten, getötet. Schon bald hieß die Grenze auch „Todesstreifen“.

Auch in der DDR erstarkte 1989 die Bürgerrechtsbewegung. Nach dem wöchentlichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche schlossen sich am 13. März 1989 50 Oppositionelle zusammen und protestierten öffentlich für Reisefreiheit und Grundrechte. Im Laufe des Jahres wuchs die Teilnehmer*innenzahl bei den Montagsdemonstrationen auf Hunderttausende, nicht nur in Leipzig, sondern auch in Dresden und Ost-Berlin gingen die Menschen auf die Straße. Die Reformen in den kommunistischen „Bruderstaaten“ wurden von den Bürgern und Bürgerinnen der DDR genau verfolgt. Anders als in diesen Ländern blieb die DDR-Führung aber lange unbeweglich. Während immer mehr Menschen für Freiheit und Grundrechte protestierten, gab sich das SED-Regime (SED = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der DDR hin. Aufgrund des festgefahrenen Bildes, welches der Staatsratvorsitzende Erich Honecker bei der Feier gab, forderte eine Mehrheit der Mitglieder des SED-Politbüros seinen Rücktritt. Erich Honecker verkündete diesen am 18. Oktober.

Die Wende kam am 9. November 1989. Die DDR-Führungsspitze hatte auf die wachsenden Proteste mit einer Neugestaltung des Reiserechtes reagiert. Auf einer Pressekonferenz stellte Günther Schabowski, führendes Mitglied des Politbüros, die neuen Regelungen vor. Ohne genaue Kenntnis der geänderten Regelung stellte sich Schabowski den Fragen der Journalisten. Dabei antwortete er auf die Frage, wann die Regelung gültig werden solle, vorschnell mit „sofort, unverzüglich“. Diese Aussage löste eine Kettenreaktion aus, vor allem in den westlichen Medien wurde die Meldung zum Selbstläufer. Nur wenige Stunden später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, stürmten DDR-Bürger und Bürgerinnen die Grenze. Hier zeigt sich, welch wichtige Rolle das Fernsehen bei den Geschehnissen des Jahres 1989 einnahm.

Aus der ursprünglichen Parole „Wir sind das Volk!“, mit der die Bürgerrechtsbewegung gegen das SED-Regime demonstriert hatte, wurde nun der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Sie stand für die Forderung nach der deutschen Wiedervereinigung. Sie trat am 3. Oktober 1990 in Kraft. Heute ist der 3. Oktober der deutsche Nationalfeiertag.

Bei der Wiedervereinigung trat die DDR der BRD formal bei. Für diese Möglichkeit gab es eigens einen Paragraphen im Grundgesetz der BRD (Artikel 23). Auf den sogenannten Zwei + Vier-Konferenzen wurde der Weg zur Wiedervereinigung politisch vorbereitet. Die Formel „Zwei + Vier“ bedeutete, dass die deutsche Einheit zwischen den zwei deutschen Staaten sowie den vier ehemaligen Besatzungsmächten (USA, Großbritannien, Frankreich und Russland) verhandelt wurde. Durch den Beitritt der DDR zur BRD wuchs die Europäische Gemeinschaft um fast 17 Millionen neue Bürger*innen an.

Tschechoslowakei

Zu sehen ist ein Auto mit zwei Personen daneben. Die zwei Leute halten ein Plakat mit der Aufschrift "WELCOME TO AUSTRIA!".

Grenzübergang Berg in Niederösterreich
Im Zuge der „samtenen“ Revolution werden auch die Grenzen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei geöffnet.
© Robert Newald 1989

In der an Österreich grenzenden Tschechoslowakei hatte sich bereits nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1. August 1975) eine Bürgerrechtsbewegung gebildet. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für die das Kürzel KSZE stand, war ein Versuch, auf der Ebene der internationalen Politik zur Entspannung zwischen Ost und West beizutragen.

Die charismatischen Führungspersönlichkeiten der Charta 77 – so der Name der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung – waren Jiri Hajek und Vaclav Havel. Ihren größten Rückhalt hatte die Bewegung im tschechischen Teil des Staates, weniger im slowakischen Teil.

Im Oktober 1989 kam es zu Demonstrationen in Prag und Brünn. Die Kundgebung am 17. November 1989, bei der dem 50. Jahrestag der Ermordung des Prager Studenten Jan Opletal durch die Nationalsozialisten gedacht wurde, wurde von der Oppositionsbewegung auch dazu genutzt, für das Ende der kommunistischen Herrschaft zu demonstrieren. Der Protest eskalierte, Gerüchte über die Ermordung eines Studenten heizten die Unruhen weiter an. Zwei Tage später, am 19. November, erklärte sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei zum Dialog mit den Oppositionellen bereit. Auf diese Weise wurde der als „sanfte“ oder „samtene“ Revolution bezeichnete Umbruch in der Tschechoslowakei eingeläutet und die Macht der kommunistischen Partei beschränkt. Am 25. November trat die Führung der kommunistischen Partei geschlossen zurück.

Besonders in der DDR wurden die Ereignisse in der Tschechoslowakei gebannt verfolgt. Wie auch über Ungarn versuchten Ostdeutsche über die Tschechoslowakei aus der DDR zu flüchten. Die Bilder der von DDR-Flüchtlingen überfüllten Deutschen Botschaft in Prag gingen um die Welt. Wie zuvor in Ungarn wurde auch der Zaun der österreichisch-tschechischen Grenze symbolisch geöffnet.

War der politische und gesellschaftliche Umbruch von 1989 von Erfolg gekrönt, so war der Reformprozess der Tschechoslowakei doch noch nicht abgeschlossen. 1993 teilte sich die Tschechoslowakei in zwei Staaten: die Tschechische Republik und die Slowakische Republik.