Die österreichischen Männer erhielten im Jahr 1907 das allgemeine und gleiche aktive und passive Wahlrecht. Die österreichischen Frauen erlangten es – nachdem die österreichische Frauenstimmrechtsbewegung seit Jahren darum gekämpft hatte – erst 1918 nach dem Ersten Weltkrieg.
In Folge zogen bei den Wahlen für die Konstituierende Nationalversammlung vom 16. Februar 1919 erstmals acht Frauen in das österreichische Parlament, bestehend aus 170 Abgeordneten, ein: die Sozialdemokratinnen Therese Schlesinger, Adelheid Popp, Emmy Freundlich, Gabriele Proft, Marie Tusch, Amalie Seidel und Anna Boschek sowie die Christlich-Soziale Hildegard Burjan.
Die erste von einer Frau gehaltene Rede im Hohen Haus stammte von Adelheid Popp und beschäftigte sich mit der Abschaffung des Adels. Das erste von Frauen vorbereitete und eingebrachte Gesetz war das Hausgehilfinnengesetz, das die alte Gesindeordnung ablöste. Manche noch heute gültigen sozialpolitischen Gesetze sind der Initiative dieser acht Frauen zu verdanken. Andere Initiativen, wie jene zu einer Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, konnten erst Jahrzehnte später umgesetzt werden.
Zu den einzelnen Parlamentarierinnen:
geboren am 14.5.1874, gestorben am 19.11.1957
Anna Boschek, die Pionierin der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, stammte aus ärmlichen Verhältnissen und war als Arbeiterin in der Chemie- und Textilindustrie tätig. 1891 trat sie der Gewerkschaft bei und wurde Mitglied des sozialdemokratischen Arbeiterinnen-Bildungsvereins. Zwei Jahre später bekam sie eine Anstellung bei der Gewerkschaftskommission für die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen – eine Funktion, die sie bei ihrem Kampf um die Gleichberechtigung der Frau nutzen konnte. 1890 wurde sie als erste Frau in den Parteivorstand der Sozialdemokraten gewählt. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie von 1918 bis 1920 Mitglied des Wiener Gemeinderats. 1919 zog sie in die Konstituierende Nationalversammlung ein und blieb bis zur Auflösung des Parlaments 1934 Abgeordnete zum Nationalrat. Im austrofaschistischen „Ständestaat“ wurde Anna Boschek verhaftet und nach ihrer Freilassung unter Polizeiaufsicht gestellt. Nach 1945 übernahm Anna Boschek keine politischen Funktionen mehr, der gewerkschaftlichen und sozialistischen Bewegung blieb sie bis an ihr Lebensende treu.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Anna Boschek
geboren am 25.6.1878, gestorben am 16.3.1948
Emmy Freundlich, geborene Kögler, entstammte im Gegensatz zu anderen sozialistischen Mitstreiterinnen einer wohlhabenden böhmischen Familie. Durch die Beziehung zu ihrem späteren Mann, Leo Freundlich, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, von dem sie sich später wieder scheiden ließ, kam sie jedoch in Berührung mit sozialdemokratischen Ideen. Sie begann sich in der Arbeiter*innenbewegung zu engagieren, publizierte in sozialdemokratischen Zeitungen und leitstete politische Basisarbeit bei der Organisierung von Textil-, Tabak- und Heimarbeiterinnen. Nach ihrer Übersiedlung nach Wien (auch in Folge der Scheidung) arbeitete Freundlich in der Genossenschaftsbewegung. 1919 wurde sie Abgeordnete im österreichischen Nationalrat, von 1919 bis 1922 war sie Direktorin des Ernährungsbeirats des Amtes für Volksernährung. 1918 bis 1923 gehörte sie dem Wiener Gemeinderat an. 1924 wurde sie als einzige Frau Mitglied der Vorbereitungskonferenz des Völkerbundes. 1934, nach der Ausschaltung des Parlaments, wurde sie verhaftet, 1939 emigrierte Emmy Freundlich, die auch als Schriftstellerin tätig war, nach England. 1947 übersiedelte sie nach New York, wo sie ein Jahr später starb.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Emmy Freundlich
geboren am 11.2.1869, gestorben am 7.3.1939
Adelheid Popp, geborene Dworak, gilt heute als eine der bedeutendsten österreichischen Frauenrechtlerinnen in den letzten Jahrzehnten der Monarchie und in der Ersten Republik. Sie entstammte einer kinderreichen Familie, wuchs in bitterarmen Verhältnisse auf und kam erst durch die Zeitungslektüre in Berührung mit sozialistischen Ideen. Durch ihre rhetorischen Fähigkeiten war sie bald eine gesuchte Versammlungsrednerin und erhielt eine besondere Förderung durch Emma Adler, die Frau von Viktor Adler. 1892 gehörte sie zu den Begründer*innen und Redakteur*innen der Arbeiterinnen-Zeitung. Im Zentrum ihrer politischen Forderungen standen v.a. die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und das Frauenwahlrecht. 1893, in dem Jahr, in dem sie mit Julius Popp einen der führenden Männer der Sozialdemokratie heiratete, gab sie die Fabriksarbeit auf und widmete sich ganz der Herausgabe der Arbeiterinnen-Zeitung. 1895 wurde sie wegen ihrer kritischen Haltung zur traditionellen Ehe zu einer Arreststrafe verurteilt, 1898 in das neu gegründete Frauenreichskomitee der Sozialdemokratischen Partei gewählt. 1902 gründete sie den „Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen“ und übernahm den Vorsitz des „Internationalen Frauenkomitees“. Als 1918 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, zog Adelheid Popp in den Wiener Gemeinderat ein (bis 1923) und wirkte als Abgeordnete im Nationalrat (bis 1934), wo sie sich besonders für frauen- und familienpolitische Belange wie etwa die Eherechtsreform, die Einkommensgleichheit für Männer und Frauen und das Hausgehilfinnengesetz, das die Dienstbotenordnung ablösen sollte, einsetzte. Aus dem Parteivorstand, dem Adelheid Popp über mehrere Jahrzehnte angehört hatte, zog sie sich 1933 aus gesundheitlichen Gründen zurück. Im März 1939 starb Adelheid Popp an einem Schlaganfall in Wien.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Adelheid Popp
geboren am 20.2.1879, gestorben am 6.4.1971
Gabriele Proft wurde als eines von sechs Kindern eines Schuhmachers und seiner Frau in Schlesien geboren. Aufgrund von finanziellen Zwängen musste sie die Bürgerschule nach zwei Jahren abbrechen und zog nach Wien um dort als Hausgehilfin und später als Heimarbeiterin zu arbeiten. In dieser Tätigkeit, begann sie sich gewerkschaftlich zu engagieren und wurde 1902 Vorstandsmitglied der Gewerkschaft der Heimarbeiterinnen.
1909 wird sie zur ersten Sekretärin des Frauenzentralkomitees und beginnt zusätzlich ihre journalistischen Tätigkeiten. Auch am Aufbau des Vereins sozialdemokratischer Frauen und Mädchen arbeitet sie gemeinsam mit Popp, Schlesinger, Boschek und Seidel. In der Zwischenkriegszeit ist sie von 1920 bis 1934 Abgeordnete zum Nationalrat. Es folgt das Verbot sozialdemokratischer Organisationen durch die austrofaschistische Diktatur und mehrere monatelange Gefängnisaufenthalte, sowie die Deportation durch die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager. Sie überlebt und ist auch in der Zweiten Republik politisch aktiv, als Vorsitzende der SPÖ und Abgeordnete zum Nationalrat. Ihre wichtigsten politischen Anliegen waren die Reform des Familien- und Eherechts, eine radikale Friedenspolitik, sowie eine Strafrechtsreform.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Gabriele Proft
geboren am 6.6.1863, gestorben am 5.6.1940
Therese Schlesinger, geborene Eckstein, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die eine Papierfabrik betrieb. Der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts wurde sie sich bereits in frühen Jahren bewusst, da ihre Brüder studieren konnten, sie sich nach dem Besuch der Volks- und Bürgerschule aber selbst weiterbilden musste. Therese Schlesinger schloss sich 1894 dem „Allgemeinen Österreichischen Frauenverein“ an und wurde bald in den Vorstand gewählt. Neben der Gleichberechtigung war ihr auch die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterinnen wichtig. Im Zuge einer Enquete „Zur Lage der Wiener Arbeiterinnen“ lernte sie 1896 die Sozialistinnen Adelheid Popp und Anna Boschek kennen. Im folgenden Jahr trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei. Die Anliegen der Frauen vertrat sie bei zahlreichen Veranstaltungen, trug zur Gründung des „Vereins sozialdemokratischer Frauen und Mädchen“ bei und setzte sich vehement für das Frauenwahlrecht ein. Parteiintern war sie vor allem in der Bildungsarbeit tätig. Von 1919 bis 1923 war Therese Schlesinger Abgeordnete zum Nationalrat, anschließend bis 1930 Mitglied des Bundesrats. 1926 verfasste sie den die Frauenfragen betreffenden Teil des „Linzer Programmes“, dem neu formulierten Parteiprogramms der Sozialdemokraten. 1933 zog sie sich 70jährig ins Privatleben zurück; nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich musste sie wegen ihrer jüdischen Herkunft nach Frankreich fliehen, wo sie 1940 starb.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Therese Schlesinger
geboren am 21.2.1876, gestorben am 11.5.1952
Amalie Seidel, geborene Ryba, stammte aus einer sozialdemokratischen Arbeiter*innnenfamilie und musste früh – als Dienstmädchen und Heimarbeiterin, später in der Textilindustrie – arbeiten. 1893, mit erst 17 Jahren, setzte sie den 1. Mai als arbeitsfreien Tag an ihrer Arbeitsstelle durch, wurde darauf jedoch fristlos entlassen. Daraufhin organisierte Amalie Seidel den ersten Frauenstreik, bei dem rund 700 Frauen für ihre Rechte demonstrierten. Die Forderungen der Frauen, darunter der Zehnstunden-Arbeitstag und die Wiedereinstellung Amalies, konnten umgesetzt werden. Führende Sozialdemokraten wie Victor Adler wurden durch den Frauenstreik auf Amalie Ryba aufmerksam und sorgten für ihre Weiterbildung. Amalie Ryba engagierte sich in der Frauenbildung und war Mitbegründerin einer Konsumgenossenschaft. 1895 heiratete sie den Sozialdemokraten und Gewerkschafter Richard Seidel, mit dem sie zwei Töchter hatte. Sie war Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung bzw. des Nationalrats von 1919 bis 1934 und von 1918 bis 1923 Abgeordnete zum Wiener Gemeinderat, wo sie als erste Frau das Wort ergriff. Ihre Arbeit war von der Armut ihrer Kindheit geprägt: So befürwortete sie die Konsumgenossenschaftsbewegung, engagierte sich in sozialpolitischen Fragen, war stellvertretende Vorsitzende des Wiener Jugendhilfswerks und widmete sich der Gleichstellung der Frau. 1934 wurde Amalie Seidel verhaftet, in Folge zog sie sich offiziell aus der Politik zurück. Ihre Wohnung blieb aber auch in den Folgejahren ein fester Treffpunkt für mehrere Wiener Politikerinnen, wo ungestört gesprochen werden konnte. 1942 heiratete sie ihren langjährigen Freund, den jüdischen Wiener Gemeinderat Siegmund Rausnitz, um ihn vor der Verfolgung der Nazis zu schützen, was jedoch nicht gelang. 1952 starb Amalie Seidel, die nach 1945 kein politisches Amt mehr übernommen hatte, in Wien.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Amalie Seidel
geboren am 1.12.1868, gestorben am 25.07.1939
Marie Tusch, geborene Pirtsch, wurde als Kind einer ledigen Magd in Klagenfurt geboren. Schon mit zwölf Jahren musste sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und wurde Arbeiterin in der k. u. k. Tabakfabrik in Klagenfurt. Sie wurde Vertrauensfrau, später Betriebsrätin und übernahm schließlich die Leitung des Landesfrauenkomitees der SDAPÖ Kärnten. 1919 zog sie als eine der ersten acht Frauen und einzige Nicht-Wienerin in das österreichische Parlament ein und blieb bis 1934, dem Ende der demokratischen Ordnung, Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat. Ihre politische Arbeit galt u. a. dem Schicksal der Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges und den Frauenrechten. Sie engagierte sich für die soziale Absicherung von Frauen und Müttern und setzte sich für die Straffreiheit von Abtreibungen ein. Durch ihre Arbeitserfahrungen fungierte sie als Expertin für wirtschaftliche Fragen des österreichischen Tabakmonopols. Mit den Worten „Frauen, Ihr müsst selbstbewusst werden!“ beendete Marie Tusch fast jeden ihrer Vorträge. 1939 starb sie an einer Lungenentzündung in Klagenfurt.
Weiterführend: Frauen in Bewegung 1848-1938 – Marie Tusch
Quellen
- Feigl, Susanne (2000): Politikerinnen in Wien 1848-2000. Biographien. Wien.