Moskauer Deklaration:
Erklärung der Außenminister Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten über Österreich vom 30. Oktober/1. November 1943:
„Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.
Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und nichtig. Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, als irgendwie gebunden. Sie erklären, dass sie wünschen, ein freies unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch ebensosehr den Österreichern selbst wie den Nachbarstaaten, die sich ähnlichen Problemen gegenübergestellt sehen werden, die Bahn zu ebnen, auf der sie die politische und wirtschaftliche Sicherheit finden können, die die einzige Grundlage für einen dauerhaften Frieden ist.
Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“
(Übersetzung des Originaltextes in: Eva-Marie Csaky: Der Weg zu Freiheit und Neutralität, Wien 1980, S. 33f)
Am 27. April erfolgt die Unabhängigkeitserklärung und Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs.
Neujahrsansprache von Bundespräsident Karl Renner über das Streben nach dem Abzug der alliierten Truppen und dem Abschluss eines Staatsvertrages. Die Verhandlungen gehen nur sehr zögernd voran.
„… Jeder Österreicher empfindet: Lasst uns allein, wir sind imstande, unsere Angelegenheiten selbst zu regeln, wir werden fertig mit all den Problemen des Nazismus, der Kriegsschäden, unserer inneren demokratischen Ordnung, unseres absoluten Selbstständigkeitswillens, unserer Ablehnung jeglichen Anschlusses, ob nach Westen oder Osten, nach Norden oder Süden. Wir wollen allein sein, also lasst uns allein! …“
(in: Manfred Jochum: 80 Jahre Republik Österreich, Wien 1998, S. 61)
Am 15. Mai unterzeichnet Außenminister Leopold Figl im Schloss Belvedere den Österreichischen Staatsvertrag. Kurz zuvor hatte Figl erreicht, dass die Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg, die im Absatz 3 der Präambel festgeschrieben war, gestrichen wurde.
Am 31. März findet eine Demonstration der österreichischen Widerstandsbewegung und des Antifaschistischen Studentenkomitees gegen Taras Borodajkewycz statt, der als Professor an der Wiener Hochschule für Welthandel mit antisemitischen und großdeutschen Äußerungen aufgefallen ist. Bei der Demonstration wird der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger so schwer verletzt, dass er – der erste politische Tote der Zweiten Republik – zwei Tage später stirbt. An der Aufdeckung von Borodajkewycz Handeln an der Hochschule für Welthandel sind Ferdinand Lacina und Heinz Fischer beteiligt.
Simon Wiesenthal, Leiter des jüdischen Dokumentationsarchivs, gibt in einer Pressekonferenz bekannt, dass der Bundesparteiobmann der FPÖ, Friedrich Peter, Mitglied einer berüchtigten SS-Einsatztruppe gewesen sei, die im Zweiten Weltkrieg hinter der Ostfront zahllose Kriegsverbrechen begangen habe. Peter bestreitet die Mitgliedschaft nicht, wohl aber eine persönliche Täterschaft, die ihm nicht nachgewiesen werden konnte. Bundeskanzler Bruno Kreisky stellt sich massiv vor Peter und gegen Wiesenthal, woraus eine lange und harte, vor allem in den Medien ausgetragene Kontroverse entsteht.
Am 24. Jänner wird der frühere SS-Sturmbannführer der Waffen-SS, Walter Reder, ein gebürtiger Österreicher, vorzeitig aus italienischer Haft entlassen. Er gilt als Hauptverantwortlicher für das „Massaker von Marzabotto“, bei dem im Oktober 1944 fast 1.800 Einwohner einer kleinen Stadt bei Bologna ermordet werden. 1951 wird Reder zu lebenslänglicher Haft verurteilt und in der Festung Gaeta inhaftiert. 1980 wird seine Haft bis 1985 befristet. Reder wird ein halbes Jahr früher mit einer italienischen Militärmaschine nach Graz geflogen, wo ihn der österreichische Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) offiziell und mit Handschlag empfängt. Reders vorzeitige Entlassung, für die hohe österreichische Politiker und auch Kardinal Franz König interveniert haben, wird vom Außenministerium und von Vizekanzler Steger begrüßt. Politiker der ÖVP und der SPÖ verlangen den Rücktritt Frischenschlagers, der nicht erfolgt.
Der Jüdische Weltkongress in New York informiert die internationale Öffentlichkeit über Lücken in der offiziellen Biographie des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim. Er sei als Offizier der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt gewesen. Die Vorwürfe gegen Waldheim und die Rolle der Österreicher in der Deutschen Wehrmacht beherrschen den Bundespräsidentenwahlkampf, für den Kurt Waldheim als Kandidat der ÖVP kandidiert.
Bundespräsident Kurt Waldheim wird vom US-Justizministerium auf die so genannte „Watchlist“ gesetzt, das heißt, die private Einreise in die USA ist ihm verboten. In einer Fernsehansprache kritisiert Waldheim die Watchlist-Entscheidung, übt aber auch Selbstkritik und verurteilt die deutsche Kriegsführung auf dem Balkan.
Eine internationale Historiker*innenkommission stellt in ihrem Bericht fest, dass Kurt Waldheim – entgegen seiner Behauptungen – von Kriegsverbrechen am Balkan gewusst haben müsse. Simon Wiesenthal, der Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums, fordert den Bundespräsidenten zum Rücktritt auf.
Im Gedenkjahr „1938-1988“ findet eine intensive Debatte um Österreichs NS-Vergangenheit statt. Mehrere Diskussionsveranstaltungen finden statt, zahlreiche Publikationen erscheinen.
Der Bildhauer Alfred Hrdlicka errichtet auf dem Platz vor der Albertina ein Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, im Zuge dessen kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen.
Am 8. Juli 1991 nimmt Bundeskanzler Franz Vranitzky im Nationalrat die positive Einschätzung der „ordentlichen Beschäftigungspolitik“ des Nationalsozialismus durch den Kärntner Landeshauptmann und FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider zum Anlass für eine ausführliche Reflexion über die Rolle Österreichs im veränderten Europa vor dem Hintergrund der Geschichte:
„… Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten. Dieses Bekenntnis haben österreichische Politiker immer wieder abgelegt. Ich möchte das heute ausdrücklich auch im Namen der Österreichischen Bundesregierung tun: als Maßstab für das Verhältnis, das wir heute zu unserer Geschichte haben müssen, also als Maßstab für die politische Kultur in unserem Land, aber auch als unseren Beitrag zur neuen politischen Kultur in Europa.“
(in: Manfred Jochum: „80 Jahre Republik“, Wien 1998, S. 165)
Am 9. Juni 1993 hält Bundeskanzler Franz Vranitzky anlässlich seiner Israel-Reise eine Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem und bittet die Opfer der österreichischen Täter im Namen der Republik um Verzeihung.
Am 15. November hält Bundespräsident Thomas Klestil als erster Präsident der Republik Österreich eine Rede vor der Knesset, in der er von einem „schweren Erbe der Geschichte, zu dem auch wir Österreicher uns bekennen müssen“ spricht.
Die Republik Österreich setzt eine Historikerkommission ein. Entsprechend ihrem Mandat soll sie den gesamten Komplex des „Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945“ erforschen und darüber berichten.
Am 26. Oktober wird das von Simon Wiesenthal initiierte und von Rachel Whiteread gestaltete Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz eröffnet. Es ist ein Mahnmal für die mehr als 65.000 von den Nationalsozialisten ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen.
Am 9. November sorgt Bundeskanzler Wolfgang Schüssel mit einem Interview für die israelische Tageszeitung „Jerusalem Post“ für Aufregung. Er betont darin, dass Österreich vom nationalsozialistischen Deutschland mit Gewalt genommen wurde. Zur moralischen Verantwortung Österreichs an NS-Verbrechen bekennt er sich erst auf Nachfrage.
13. April: Anlässlich der Neueröffnung der überarbeiteten Wehrmachtsausstellung (erste 1995) kommt es zu (teilweise gewalttätigen) Auseinandersetzungen in Wien. Die Ausstellung beseitigt das Bild von der „sauberen Wehrmacht“, von den Gegner*innen der Ausstellung wird diese als „Pauschalverurteilung aller Wehrmachtsangehörigen“ kritisiert.
24. Februar: Die 1998 eingesetzte Historikerkommission präsentiert ihren Endbericht. In 53 Berichten und auf 14.000 Seiten wurden systematisch der Raub durch das NS-Regime und die Versuche der Wiedergutmachung nachgezeichnet, wobei die Kommission zu dem Ergebnis kommt, dass die Republik Österreich – basierend auf einem Missbrauch der Opferthese – nach 1945 oft nur halbherzig und teilweise recht zögerlich bei der Entschädigung der Nazi-Opfer agiert hat.
Im Jubiläumsjahr 2005 steht erstmals seit der Waldheimaffäre 1986 und der mit ihr verbundenen geschichtspolitischen Zäsur – nicht (mehr) eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Verstrickung in NS-Verbrechen im Vordergrund, sondern, zentriert um das Staatsvertragsjubiläum, erneut die relativ unreflektierte Inszenierung der ungebrochenen Erfolgsstory Zweite Republik (Heidemarie Uhl).
Die SPÖ präsentiert zwei Studien zu ihrem Umgang mit der NS-Vergangenheit und ihren „braunen Flecken“. Alle anderen Parteien haben bis dato (2010) die Geschichte ihres Umgangs mit der NS-Vergangenheit nicht aufgearbeitet.
Im Gedenkjahr 2008 gibt die Bundesregierung eine Finanzierungszusage für das in Gründung befindliche Wiener Wiesenthal Institut.
Die FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidatin Barbara Rosenkranz spricht davon, dass Teile des Verbotsgesetzes mit der Meinungsfreiheit kollidieren würden. Nach heftigen Protesten kommt es zu einer eidesstattlichen Erklärung von Rosenkranz. Am 8.3.2010 hält sie fest, dass sie das „Verbotsgesetz als Symbol für die Abgrenzung vom Nationalsozialismus niemals in Frage gestellt habe“.
Bis heute existiert der „Opfermythos“ in den Köpfen verschiedener Menschen. Dennoch gibt es einige Bemühungen, insbesondere aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, die Verantwortlichkeit und Beteiligung Österreichs im Nazi-Regime aufzudecken.
Quellen
- Jochum, Manfred (Hg.): 80 Jahre Republik Österreich. 1918 bis 1938 und 1945 bis 1998 in Reden und Statements. Ketterl-Verlag, Wien 1998
- Csaky, Eva-Marie: Der Weg zu Freiheit und Neutralität. Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945-1955, Wien 1980
- Gehler, Michael / Sickinger, Hubert (Hg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Kulturverlag, Thaur/Wien/München 1995
- Format, Nr. 48, 2000, S. 162-164
- Uhl, Heidemarie: Europäische Tendenzen, regionale Verwerfungen. Österreichisches Gedächtnis und das Jubiläumsjahr 2005, in: Koroschitz, Werner/ Rettl, Lisa (Hg.): „Heiß umfehdet, wild umstritten …“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot. Katalog zur Sonderausstellung im Museum der Stadt Villach. 21. April-30. Oktober 2005, Klagenfurt/Celovec 2005, S. 21-26
- www.vwi.ac.at, 04/2013