Konfliktthema Schwangerschaftsabbruch
Die Fristenlösung, eine auch im europäischen Vergleich für die damalige Zeit liberale Regelung, war ursprünglich nicht Bestandteil des neuen Strafgesetzentwurfes gewesen. Vielmehr sah der Regierungsentwurf zum neuen Strafgesetzbuch eine erweiterte Indikationslösung (d.h. die Straffreistellung der Schwangerschaftsunterbrechung bei ethischen, medizinischen und sozialen Indikationen) entsprechend dem Justizprogramm von 1969 vor. Aufgrund des Drucks der Sozialdemokratinnen hatte Justizminister Broda jedoch noch vor dem Villacher Parteitag der SPÖ 1972 seine Position geändert und sich der Forderung der Frauen nach der Fristenlösung, d.h. der völligen Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung innerhalb eines bestimmten Zeitraums, angeschlossen. Maßgeblich für den Meinungswechsel Brodas war neben dem Druck der Frauen auch die Erkenntnis, dass die zuvor vorgesehene erweitere Indikationslösung ein Vermittlungsversuch war, über den mit der Opposition und v.a. mit den katholischen Gruppierungen keine Einigkeit erzielt werden könne. Zudem hätte ihm ein Gespräch gezeigt, dass die Ärzte bei der erweiterten Indikationslösung überfordert wären. Broda votierte auf dem Parteitag 1972 daher für die Annahme der Fristenlösung und empfahl dem Parteitag, sich dem Antrag der Frauenorganisationen anzuschließen. Schwere Bedenken gegen die Fristenlösung hatte hingegen Bundeskanzler Kreisky, der hierdurch das (erst seit wenigen Jahren entspannte) Verhältnis der SPÖ zur katholischen Kirche gefährdet sah und zudem befürchtete, dass sich die Fristenlösung bei den nächsten Nationalratswahlen negativ für die SPÖ auswirken könnte.
Justizminister Broda blieb jedoch bei seiner Entscheidung und riskierte damit auch den von ihm angestrebten Drei-Parteien-Konsens über das neue Strafgesetzbuch. Wenn sich die Parteien auch weitgehend in der Frage der Strafrechtsreform geeinigt hatten, war klar, dass in der Frage der Fristenlösung keine Einigung erzielt werden könnte. Vielmehr entbrannte ein heftiger Kulturkampf zwischen den Parteien, den Frauenorganisationen und der katholischen Kirche sowie der Aktion Leben, die sich im Frühjahr 1973 bildete und eine harte Offensive gegen die neue Regelung startete. Mit der Parole „Mein Bauch gehört mir“ forderten die SPÖ-Frauen und autonome Frauenorganisationen außerhalb der Partei, darunter besonders die AUF, die Aktion Unabhängiger Frauen, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In Deutschland, wo zu jener Zeit ebenfalls heftig über eine Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung debattiert wurde, hatten prominente Frauen (darunter die Schauspielerinnen Romy Schneider und Senta Berger) sich bereits im Juni 1971 im Stern mit dem Bekenntnis, abgetrieben zu haben, mit den Forderungen der Frauen solidarisiert. In Österreich argumentierten v.a. die katholische Kirche und die Aktion Leben, die später auch die Unterstützung der österreichischen Bischofskonferenz gewinnen konnte, mit dem Mord an ungeborenen Kindern und dem Schutz von Leben.
Die ÖVP, die sich im Laufe der Debatte immer stärker von der katholischen Kirche emanzipierte, signalisierte deutlich, dass sie der Fristenlösung nicht zustimmen werde, machte Zugeständnisse in der Frage einer erweiterten Indikationslösung und ließ sogar anklingen, dass sie einer „kleinen Fristenlösung“ (der straffreien Schwangerschaftsunterbrechung bis zur Nidation, der Einnistung des befruchteten Eies, rund zwölf Tage nach der Befruchtung) zustimmen würde. Die SPÖ blieb jedoch bei ihrem Konzept der Fristenlösung, das im Sinne des „Helfen statt Strafen“ die straffreie Abtreibungsmöglichkeit bis zum dritten Schwangerschaftsmonat vorsah.
Das neue Strafgesetzbuch wurde daher am 29. November 1973 nur mit den Stimmen der SPÖ gegen jene von ÖVP und FPÖ beschlossen, wobei die Beratung des neuen Strafgesetzbuches (27. bis 29. November 1973) einen Höhepunkt in der Geschichte des Parlamentarismus in der Zweiten Republik markiert. Im Bundesrat, wo die ÖVP über die Mehrheit verfügte, wurde es in Folge jedoch beeinsprucht. Es musste von der SPÖ daher im Nationalrat neuerlich behandelt und am 24. Jänner 1974 mittels eines Beharrungsbeschlusses bestätigt werden.
Der Kampf gegen die Fristenlösung hatte damit aber noch nicht sein Ende gefunden. Das Land Salzburg hatte mit Unterstützung der ÖVP bereits im Jänner 1974 signalisiert, dass es eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof einbringen werde, was in der Folge auch geschah. Im November 1975 startete die Aktion Leben ein (bereits seit längerer Zeit angedrohtes) Volksbegehren gegen die Fristenlösung, das mit knapp 900.000 Unterschriften zum vorerst erfolgreichsten Volksbegehren der Zweiten Republik wurde (1982 wurde es erstmals vom Volksbegehren zum Konferenzzentrum-Einsparungsgesetz überholt, das sich erfolglos gegen den Bau des Austria Center Vienna wandte). An der Gültigkeit der Fristenlösung haben sowohl die Verfassungsgerichtshofbeschwerde als auch das Volksgehren nichts geändert. Sie ist – wenn es auch in den folgenden Jahren immer wieder Angriffe auf diese Regelung gab – noch heute in Kraft. 1975 hatte sie einen Bekanntheitsgrad von 95% erreicht. Dass die Fristenlösung, die aus dem Wahlkampf 1975 herausgehalten wurde, der SPÖ – wie von Kreisky befürchtet – die absolute Mehrheit kosten könnte, hatte sich bereits Ende 1974 als nicht richtig erwiesen. Bei einer Meinungsumfrage zu diesem Zeitpunkt war deutlich geworden, dass sich 50% der Befragten für die Fristenlösung aussprachen.