Das Atomkraftwerk in Zwentendorf steht heute gleichsam als Denkmal für eine Zäsur in der österreichischen Demokratiegeschichte. Ende der 1970er Jahre entwickelte sich eine Bürgerinitiativ- und Ökologiebewegung, die die bisher unumstrittenen Symbole einer modernen Gesellschaft wie Autobahnen und Großbauprojekte in Frage stellte und Lebensqualität neu definierte. In der Auseinandersetzung um das Großbauprojekt „Atomkraft“ bündelte sich erstmals die Kritik am technokratischen Fortschrittsbegriff.
Der bundesweite Zusammenschluss der Atomkraftgegner*innen in der IÖAG (Initiative österreichischer Atomkraftwerksgegner*innen) wurde zu einem bedeutenden Experimentierfeld für basisdemokratische Formen politischer Partizipation. Bundeskanzler Bruno Kreisky setzte sich mit dem ganzen Gewicht seines Amtes für die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes ein. Eine Position, die er erst nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 revidierte. Angesichts der breiten Protestbewegung, die auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten Schätzungen zufolge rund 500.000 Personen umfasste, nahm er jedoch den Vorschlag der AKW-Gegner*innen nach einer Volksabstimmung auf und setzte ihn in der Regierung durch.
Am 5. November 1978 entschied sich eine knappe Mehrheit der Österreicher*innen (50,47 Prozent) gegen die Atomenergie. Ein Erfolg, der neuen sozialen Bewegungen in Österreich Auftrieb gab und in den 1980er Jahren zur Gründung grün-alternativer Parteien führte. Die Atomenergiedebatte ab Mitte der 1970er Jahre kann als Indikator dafür gelten, dass die etablierten Parteien als Interessensvertretungen und Trägerinnen politischer Planung und Entscheidung zumindest in einigen gesellschaftlichen Segmenten hinterfragt wurden.
Letztes Update: 09/2021
Artikel zum Thema
Untertitel:
Zur medialen Berichterstattung über grenznahe Atomkraftwerke am Beispiel der Slowakei
Autorinnen:
Dejanovic, Sonja / Liebhart, Karin
Beschreibung:
Am Beispiel der Berichterstattung ausgewählter Printmedien über die Gefährdung Österreichs durch grenznahe slowakische Atomkraftwerke werden – vor dem Hintergrund der politischen Diskussion um eine Erweiterung der EU nach Osten – Fremdbilder des bedrohlichen Ostens und negative Stereotypisierungen rekonstruiert.
Quelle:
in: SWS-Rundschau, Heft 3/1999, S. 221-237
PDF-Datei:
Autor:
Campbell, David
Beschreibung:
In seinem Beitrag analysiert David Campbell den Hintergrund und die Beweggründe für das Entstehen von Bürger*inneninitiativen und skizziert jene Dynamikmomente, die zu einem veränderten Wähler*innenverhalten führten. Im Mittelpunkt steht die Anti-AKW-Bewegung, die eine politisch-strukturelle Wende einleitete, bei der es sich auch um einen Generationskonflikt handelte.
Quelle:
aus: David Campbell: Der politische Paradigmenbruch in Österreich. Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen als demokratiepolitische Phänomene. Sonderdruck in: SWS-Rundschau, Heft 2/1991, S. 211-219. Abgedruckt in: Forum Politische Bildung (Hg.), Wendepunkte und Kontinuitäten. Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte, Innsbruck/Wien 1998, S. 166-171.
PDF-Datei:
Videos
Austria Wochenschau 50/69, Beitrag 7
Quelle: Filmarchiv Austria
Ort: Österreich
Originaltext:
Eine leistungsstarke öffentliche Elektrizitätsversorgung ist Voraussetzung für die Wirtschaft eines Landes, Strom brauchen Betriebe und Haushalte. Ihn zu erzeugen ist Aufgabe der Stadtwerke, der Landesgesellschaften und der Verbundgruppe. Als Rohenergiequelle verwenden sie in ihren Kraftwerken meist Wasser, Kohle, Heizöl oder Erdgas. Die zunehmende Technisierung von Haushalt und Arbeitsplatz erfordert aber immer mehr elektrische Energie. Der Strombedarf unseres Landes wird im Jahre 1980 doppelt so groß sein wie heute. Deshalb müssen neue leistungsstärkere Kraftwerke errichtet werden, die mehr und vor allem billiger Strom erzeugen können, Atomreaktoren besitzen wir bereits in Österreich. Nun ist es den Bemühungen des Verkehrsministers Dr. Weiss zu danken, dass eine Einigung über die Errichtung einer Betriebsgesellschaft für ein Kernkraftwerk erzielt werden konnte. Es soll schon 1975 Atomstrom liefern. Das erste österreichische Kernkraftwerk wird etwa drei Milliarden Schilling kosten. Durch den Bau solcher leistungsstarker Kraftwerke wird auch eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit der gesetzlich organisierten Stromversorgergruppen Österreichs notwendig. Verhandlungen mit diesem Ziel wurden auf Initiative von Verkehrsminister Weiss bereits erfolgreich geführt.
Austria Wochenschau 27/77, Beitrag 1
Quelle: Filmarchiv Austria
Ort: Österreich
Originaltext:
Zwentendorf in Alarmbereitschaft: 4.000 Menschen nehmen an einer friedlichen Demonstration gegen die Inbetriebnahme des ersten österreichischen Atomkraftwerkes teil.
Die Inbetriebnahme von Zwentendorf wird sich aus ökonomischen Gründen nicht vermeiden lassen: Eine Investition von sieben Milliarden Schilling ungenützt zu lassen, kann sich ein kleines Land wie Österreich nicht leisten. Aber vielleicht bleibt Zwentendorf Österreichs erstes und letztes Atomkraftwerk. Wird doch mittlerweile auf der ganzen Welt nach Alternativen zur Atomenergieversorgung geforscht. Alternativen, die vor allem eine ungefährlichere Nutzung der natürlichen Energiereserven der Erde zulassen, wie zum Beispiel aus unterirdischen Geysiren.
Und dann gibt es noch Wind als Energiequelle. Windmühlen werden heute schon in verschiedenen Ländern als Selbstbausätze für Heimwerker angeboten. Das neueste Modell dieser Art steht im amerikanischen Bundesstaat Ohio und heißt Windturbine. Sie erbringt die beachtliche Leistung von 100 Kilowatt.
Die herkömmlichste Methode der Sonnennutzung besteht darin, die Sonnenstrahlen zu konzentrieren, Wasser zu verdampfen, um dann mit dem Wasserdampf die Turbinen zu betreiben. Dadurch kann auch bei bedecktem Himmel durch die gespeicherte Sonnenenergie Strom produziert werden. Was in Israel schon gang und gebe ist, könnte auf der ganzen Welt Anwendung finden: die Errichtung von Sonnenkollektoren auf den Dächern der Häuser.
Kernfusion mittels Laserstrahl ist jedoch der neueste Hit der Energieforschung. Das Prinzip besteht in einer kontrollierten Kernspaltung mittels Laserstrahl. Die dabei freiwerdende Hitze wird in elektrischen Strom umgewandelt. Es bleibt abzuwarten, ob es der Wissenschaft gelingt, mit dem Laserstrahl die Energieprobleme zu lösen.
Austria Wochenschau 43/78, Beitrag 2
Quelle: Filmarchiv Austria
Ort: Österreich
Originaltext:
Das Kernkraftwerk Zwentendorf – Österreichs zukünftig größte Energiequelle ist inzwischen, noch vor Inbetriebnahme, auch zur größten Streitquelle der Nation geworden. Seit Monaten tobt das Hin und Her in Form mehr oder weniger sachlicher Argumentation, Demonstration und Dokumentationen.
Dem Streit soll nun ein Ende gesetzt werden: Im Sinne der Sicherheit, wie der Sprecher der Atomkraftwerksgegner, der Geologe Professor Tollmann, meint: „Aufgrund der Hearings im Parlament und aufgrund weiterer wissenschaftlicher Arbeiten ist heute eindeutig ergeben, dass das Gebiet von Zwentendorf mit dem AKW in einem Starkbebengebiet gelegen ist. Es kommt hinzu, dass der Grundwasserstrom direkt nach Wien hereinkommt und bei einer Verseuchung auch das gesamte Grundwasser in diesem Teil Österreichs verseucht werden würde.“
Befürworter argumentieren mit der Anzahl fertiger oder geplanter Atomreaktoren um Österreich. Nationalbank-Generaldirektor Kienzl: „Und schließlich sind auch bei Erdbeben in Süd-Deutschland die Kernkraftwerke klaglos in Betrieb, es hat keinen Unfall, ja nicht einmal die kleinste Betriebsstörung gegeben.“
Sicherheit im Betrieb des Reaktors ist zu wenig – es geht doch, so die Gegner, um die Endlagerung des Atommülls: „Schließlich ist noch ganz entscheidend, dass wir in Österreich kein Endlager finden. Die Berichte über eine Möglichkeit der Endlagerung im Mühlviertel oder im Waldviertel werden aufgrund der Satellitenbilder, die die Brüche zeigen, und aufgrund der geologischen Gegebenheiten widerlegt.“
„Jeder Österreicher, der am 5. November an der Volksabstimmung teilnehmen will, müsste folgendes bedenken. Es gibt seit 25 Jahren Kernkraftwerke. Insgesamt sind gegenwärtig 208 in Betrieb und es hat in all diesen Jahren, bei all diesen vielen Kernkraftwerken nicht einen einzigen Kernkraftwerksunfall im Werk gegeben, geschweige denn, dass die Bevölkerung zu Schaden gekommen wäre. Es gibt keine andere Stromproduktionstechnik, die so sicher ist wie die Kernkraftwerkstechnik.“
Eine Volksabstimmung soll über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf entscheiden. Sie wird wie eine Nationalratswahl durchgeführt. Stimmberechtigt sind alle Österreicher, die das Wahlrecht besitzen.
Austria Wochenschau 46/78, Beitrag 2
Quelle: Filmarchiv Austria
Ort: Östereich
Originaltext:
Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf. Pro- und Kontraargumente purzeln in den Tagen zuvor wild durcheinander. Gegner wie Befürworter appellieren zuweilen mehr ans Gefühl als an die Vernunft. Zu allen sachlichen Unwägbarkeiten kommt die Tatsache, dass es sich um die erste umfassende Volksabstimmung in Österreich handelt.
In den Abendstunden des Abstimmungstages gibt Innenminister Lanc das Ergebnis bekannt: „Es waren stimmberechtigt 5.083.673 Österreicher. Abgegeben wurden von ihnen 3.259.118 Stimmen, das ist eine Beteiligung von 64,10 Prozent. Auf „Ja“ lauteten 1.576.839, das sind 49,53 Prozent der gültigen Stimmen. Auf „Nein“ lauteten 1.606.308 Stimmen, das sind 50,47 Prozent der gültigen Stimmen. Das im Nationalrat beschlossene und zur Abstimmung vorgelegte Gesetz ist damit nicht von der Mehrheit der Stimmbürger goutiert worden.“
Nun beginnt das große Kopfzerbrechen, auf welche Weise Österreichs Stromversorgung in der Zukunft sichergestellt werden kann.
Galerie zur Wissensstation
Literatur
Wendepunkte und Kontinuitäten. Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte
Autor: Forum Politische Bildung (Hg.)
Bibliografie: Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung. Studien-Verlag, Wien/Innsbruck 1998 sowie aktualisierte Onlineausgabe auf www.politischebildung.com 2008
Link: Wendepunkte und Kontinuitäten
Kein Kernkraftwerk in Zwentendorf! 30 Jahre danach
Autor: Halbrainer, Heimo (Hg.)
Bibliografie: Bibliothek der Provinz, Weitra 2008
Die Ära Kreisky. Österreich 1970-1983
Autor: Kriechbaumer, Robert
Bibliografie: Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2004
Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich
Autor: Foltin, Robert
Bibliografie: Edition Grundrisse, Wien 2004
Link: Und wir bewegen uns doch
Lexikon
BürgerinitiativeDemokratie, direkteEuropäische Atomgemeinschaft (EURATOM)Initiative Österreichischer Atomkraftwerksgegner (IÖAG)Neue soziale BewegungenVolksabstimmungQuellen
- Gottweis, Herbert (1998): Zwentendorf und die Folgen. In: Wendepunkte und Kontinuitäten. Innsbruck/Wien: Studien Verlag, S.165-166.